Die Liste der Künstler*innen, die sich Bühnenbildern und Kostümen gewidmet haben, gleicht einem „Who is Who" der bildenden Kunst. Wir haben uns zehn Positionen genauer angesehen – von Marc Chagall und Niki de Saint Phalle bis hin zu Wolfgang Tillmanns.

1.    Fantastischer Farbenreichtum: Natalia Goncharova, „Le coq d‘or"

Möchte man das Verhältnis zwischen Tanz und moderner Kunst ergründen, darf ein Name nicht fehlen: Die Ballets Russes. Das reisende Ballettensemble wurde 1909 von Serge Diaghilev gegründet, der nicht nur die gefragtesten Choreograf*innen und Komponist*innen für seine Inszenierungen gewinnen konnte, sondern auch weltbekannte Künstler*innen. Wegweisend waren vor allem die Bühnenbilder und Kostüme von Natalia Goncharova für das Opern-Ballett „Le Coq d’Or“, das 1914 in Paris und London uraufgeführt wurde. Ihre Bühnenarbeit zeichnet sich durch Farbenreichtum und eine meisterinnenhafte Verknüpfung unterschiedlicher Strömungen aus – von byzantinischen Mosaiken bis zur zeitgenössischen französischen Malerei.

Natalia Goncharova, Zeichnung für das Bühnenbild von 
„Le Coq d'Or," 1914, Image via commons.wikimedia.org

2. Die Magie der Triade: Oskar Schlemmers Maschinenästhetik

Stuttgart im Jahr 1922: Die Zuschauer*innen des Württembergischen Landestheaters werden nicht schlecht gestaunt haben, als Elsa Hötzel, Albert Burger und Oskar Schlemmer die Bühne betraten. In plastischen, bunten Kostümgebilden, deren einzelne Elemente ausschließlich in runden Formen angelegt sind und so die körperliche Bewegungsmöglichkeit der Rotation andeuten, präsentierten sie eine vorher nie dagewesene Maschinenästhetik, die auf Oskar Schlemmer, einen der bedeutendsten Bauhaus-Künstler, zurückgeht. Er griff auf ungewöhnliche Materialien wie Stahlblech zurück, wodurch er die Bewegungsmöglichkeiten stark einschränkte. Das Ensemble wurde zu abstrahierten Figurinen, oder wie Oskar Schlemmer selbst sagte, zu: „farbigen und metallischen Plastiken […], die sich, von Tänzern getragen, im Raum bewegen“. 

Figurinen zum Triadischen Ballett von Oskar Schlemmer; Staatsgalerie Stuttgart © José Luiz Bernardes Ribeiro, Image via de/wikipedia.org

3. Das Leben, ein Maskenball: Leonor Fini

Masken, die in Leonor Finis Gemälden immer wieder auftauchen, fertigte sie auch für ihren persönlichen Gebrauch bei Maskenbällen im Paris der 1930er- und 1940er-Jahre an. Sie erwarb sich einen berühmt berüchtigten Ruf in der Pariser High Society, die sie mit ihren avantgardistischen Kostümen samt Eulenmasken, vergoldeten Hörnern oder Katzenohren verzauberte. Doch Fini trug diese Kleider nicht nur selbst, sondern entwarf die Kostüme auch für fast 70 Bühnenproduktionen. Besonders aufsehenerregend waren ihre Entwürfe für Oskar Panizzas „Liebeskonzil“. Leonor Fini tobte sich in provokativen Kostümen aus, die nicht nur nackte Brüste enthüllen, sondern Gott in zerlumpter Kleidung zeigen. Die Aufführung war ein großer Erfolg und wurde mit Kritikerpreisen ausgezeichnet – auch wenn das Publikum von 1968 das Theater sicher mit einem kleinen Schock verließ… 

Kostümdesign für Oskar Panizzas „Liebeskonzil", 1968, Image via leonor-fini.com

4. Chagall, „Aleko“ und „Der Feuervogel“

Ende 1941 erhielt Marc Chagall seinen ersten Auftrag für die Gestaltung von Szenenbildern und Kostümen für die Ballettbühne, die in Teilen auch in der aktuellen Ausstellung zu sehen sind. Seine Einbindung in die Produktion von „Aleko“ führte ihn sogar nach Mexico City. Drei Jahre später beauftragte das American Ballet Theatre Chagall mit einer Bühnen- und Kostümgestaltung für „Der Feuervogel“, aus der drei Szenenbilder, ein Bühnenvorhang und über 80 Kostüme hervorgingen, die eine fantasievolle Welt mit schwebenden Mensch-Tier-Wesen, Dämonen oder doppelgesichtigen Gestalten zeigt. Die Arbeit an dem Bühnenprojekt war für Chagall ein wichtiger Lichtblick in einer düsteren Zeit, die vom Tod seiner Ehefrau Bella im Vorjahr geprägt war.

Chagall. Welt in Aufruhr, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Norbert Miguletz
5. Ein symbiotisches Miteinander: Isamu Noghuchi und Martha Graham

Den Bildhauer Isamu Noguchi und Choreografin Martha Graham verband eine über vierzig Jahre andauernde Zusammenarbeit. Noguchis Bühnenbilder, die dazu gedacht waren, in, auf und um sie herum zu tanzen, brachten die Tänzer*innen oft an ihre Grenzen. In dem Stück „Embattled Garden“ (1958) ist der Garten Eden kein idyllischer Ort, sondern eine Plattform mit ebenso viel leerem Raum wie vertikal aufragenden Stützen, die sich die Bühne mit einem Baum der Erkenntnis teilt. Noguchis Entwürfe suggerieren einen abstrakten Ort und schaffen eine Umgebung, in der skulpturale Elemente und Tänzer*innen miteinander interagieren müssen.

I felt that I was an extension of Martha and that she was an extension of me… 

Isamu Noghuchi

Isamu Noghuchi und Martha Graham, Embattled Garden, New York 1958 (c) Martha Graham Center of Contemporary Dance, Inc., Image via marthagraham.org

6. Niki de Saint Phalle: Groß in Kassel

Als Symbol für die Burg von Athen und vor einem blauen Horizont gelagert, begeisterte und erzürnte der Bühnenschmuck für Aristophanes‘ „Lysistrata“, den die Malerin und Bildhauerin Niki de Saint Phalle 1966 erschuf. Sie wurde von Theaterregisseur Rainer von Diez nach Kassel eingeladen, um das Bühnenbild, Kostüme und Grafiken für seine Inszenierung zu entwerfen. De Saint Phalle identifizierte sich schnell mit dem Stück, in dem sich Frauen gegen ihre Männer und den Krieg verschwören, und fertigte mit ihrer liegenden, auf Rumpf und Schenkel reduzierten „Nana“ die eigentliche Hauptattraktion des Lustspiels an.

Niki de Saint Phalle, Abguss des Bühnenbildmodells für Lysistrata, 1966, Image via hkst.de

7. David Hockney und die Liebe zu Richard Wagner

David Hockneys Leidenschaft für die Malerei, die Musik und das Theater gehen in seinen Entwürfen für die Oper eine aufregende Symbiose ein. Die Vitalität, die Farben und der Sinn für Humor durchdringen seine Arbeit für die Bühne. 1986 inszenierte er Richard Wagners „Tristan & Isolde“ in Los Angeles und deklarierte: „I don't just love Wagner, I'm addicted to his music. […] Staging nature seemed like an interesting challenge." Während er in früheren Bühnenbildern noch mit Zeichnungen arbeitete, baute er jetzt große Modelle, die er in das Licht und die Farben Kaliforniens hüllte, ganz im Sinne Tristans, der im zweiten Akt „Das Licht! Das Licht! O dieses Licht!“ verflucht.

David Hockney, Bühnenbild für „Tristan & Isolde", Akt I., 1986, Image via huffpost.com

David Hockney, Bühnenbild für „Tristan & Isolde", Akt II., 1986, Image via huffpost.com

8. Tracey Emins Betten

Tracey Emins Installation „My Bed” machte sie 1999 zur Finalistin für den Turner-Preis. Die Arbeit, die aus einem ungemachten Bett und herumliegenden Gegenständen wie Zigaretten, Wodkaflaschen und gebrauchten Kondomen besteht, diente wohl als Ausgangspunkt und Inspiration für Emins Debüt als Bühnenbildnerin. Im Jahr 2004 engagierte man sie für Jean Cocteaus „Les Parents Terribles“, das im Londoner Jermyn Street Theatre gezeigt wurde. Der erste und dritte Akt des französischen Theaterstücks findet im Schlafzimmer der Mutter statt, das als „living-sleeping-working-having-a nervous breakdown room" beschrieben wird. Bezeichnend!

Tracey Emin, My Bed, 1998, Image via londontheinside.com

9. Immersive Welten: Wolfgang Tillmanns „War Requiem“

Mit acht Meter hohen LED-Wänden und einer riesigen Projektionsleinwand dachte Wolfgang Tillmanns im Jahr 2018 das Bühnenbild von Benjamin Brittens „War Requiem“ neu. Abstrahierte Farbarbeiten, (Himmels-)Landschaften und Bilder des zerstörten Doms von Coventry bildeten gemeinsam mit den insgesamt 120 Sänger*innen und der überwältigenden Musik ein immersives Erlebnis. Ergänzt wurde das Set durch ein Objekt aus geschmolzenem Metall, um das herum über 150 Trümmerstücke von den Schauspieler*innen im Laufe des Stücks zusammengesetzt wurden: Ein klarer Verweis auf die Bilder der Nachkriegszeit, in der Menschen die Ziegel aufräumten und die Ruinen neu aufbauten. Doch im Fokus des Bühnenbildes stand vor allem eins: dass es Platz für die Musik gibt. 

Wolfgang Tillmanns, Bühnenbild für „War Requiem", Foto: Wolfgang Tillmanns, Image via theguardian.com

10. Eine Göttliche Komödie: Tacita Deans „The Dante Project"

Anlässlich des 700. Todestages des Dichters wurde Dantes epische Reise durch das Leben nach dem Tod, „die Göttliche Komödie“, 2021 im Royal Opera House in London auf die Bühne gebracht. Die Kulisse dazu lieferte Tacita Dean, die Dantes drei Stationen –  Inferno, Purgatorio und Paradiso – in verschiedenen Medien darstellte. Das Spektrum reichte von der Zeichnung zur Fotografie bis zum Film und wurde durch ein aufwändiges Lichtdesign vervollständigt. Aus einer riesigen Kreidezeichnung eisiger Berge wurde auf diese Weise eine abstrakte Erkundung von Licht, Farbe und Reflektion, durch die es Tacita Dean gelang, die über 700 Jahre alte Geschichte in die Gegenwart zu übertragen. 

Tacita Dean, The Dante Project, 2021, Image via mariangoodman.com

CHAGALL. WELT IN AUFRUHR

4. Novem­ber 2022 – 19. Februar 2023

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