Müssen wir wirklich immer funktionieren? In der neuen Ausstellungsreihe „Über das Funktionieren“ der Frankfurter Goldstein Galerie hinterfragen Künstler*innen mit und ohne kognitiver Beeinträchtigung tradierte Funktionsweisen.

Die Kunst gilt als eine der letzten Bastionen der Freiheit. Losgelöst von Funktion oder Zweck, scheint hier noch alles möglich zu sein. Altarbilder funktionieren neben der Andacht im Sakralbau auch als Ausstellungsstück in Kunstmuseen. Duchamps berühmtes Readymade „Fountain“ ist nichts anderes als ein umfunktioniertes Urinal, das seinen ursprünglichen Sinn verloren hat. Und das ungemachte Bett von Tracey Emin fand 1999 seinen Weg in die renommierte Londoner Tate Gallery, um nur ein paar berühmte Beispiele zu nennen. Doch gilt diese sagenumwobene Freiheit nur für das Kunstobjekt selbst, oder auch für die ausführenden Künstler*innen und ihre künstlerische Praxis?

In einer Leistungsgesellschaft, in der alles immer funktionieren muss, ist der reibungslose Ablauf das höchste Gut. Bilder leerer Museen und Straßen haben in den letzten Jahren jedoch verdeutlicht, wie es ist, wenn plötzlich nicht mehr alles rund läuft. In einer Welt, die auf permanenter Funktionalität und deren stetiger Steigerung beruht, stellt sich die Frage, was passiert, wenn etwas nicht mehr oder einfach anders funktioniert? Die Goldstein Galerie widmet sich dieser Frage noch bis Januar 2023 mit einem vielfältigen Ausstellungsprogramm.

Tracey Emin, My Bed,  1999, Photo: Mark Heathcote, Tate Photography, Image via tate.org

Ein Ort, der anders funktioniert

Die Galerie ist der Ausstellungsraum des Atelier Goldsteins, das seit 2001 außerordentlich begabte Künstler*innen mit zugeschriebenen kognitiven Beeinträchtigungen in Frankfurt fördert. Hier stellen Künstler*innen des Atelier Goldsteins ihre Werke aus oder laden externe Künstler*innen zu Residenz- und Ausstellungsprogrammen ein – wie aktuell in der Ausstellung „The Crip School, Teil II“. Über die Jahre ist das Atelier zu einer renommierten Produktionsstätte der Kunst angewachsen und vertritt 16 Künstler*innen, die national und international in den Feldern Fotografie, Malerei, Zeichnung und Bildhauerei auf dem Kunstmarkt agieren. Die Atelierräume bieten den Künstler*innen Platz und Materialien für ihre künstlerische Arbeit. Bedingungen, die keine Selbstverständlichkeit sind, denn viele der Künstler*innen arbeiten neben ihrer künstlerischen Tätigkeit mehrmals die Woche in einer Werkstatt für behinderte Menschen.

Atelier Goldstein, Außenansicht, 2012, Foto: Atelier Goldstein

Die Werke, die hier entstehen, sind dabei vielfältig und häufig das Ergebnis jahrelanger künstlerischer Forschung. Auch daher funktioniert die Kategorie „Outsider Art“ für das Atelier Goldstein genauso wenig, wie die Reduzierung der Künstler*innen auf ihre zugeschriebenen „Beeinträchtigungen“. Vielmehr verstehen sich die Künstler*innen als Autodidakten im Sinne eines Jean Dubuffet oder Jean-Michel Basquiat, deren Arbeiten in namhaften Kontexten ausgestellt werden, wie zuletzt bei der Documenta fifteen oder in der SCHIRN, wo 2010 Werke der verstorbenen Künstlerin Birgit Ziegert in der Ausstellung „Weltenwandler“ zu sehen waren.

The Crip School, Teil II

In der aktuellen Ausstellung, die noch bis zum 19. November in der Goldstein Galerie zu sehen ist, untersuchen die Künstler*innen Julia Krause-Harder aus dem Atelier Goldstein und Nanou Vandecruys und Mauritz Verlinden in einer Kooperation mit dem belgischen Wit.h Kunstzentrum ihre gemeinsame künstlerische Praxis des Sammelns und Verwertens. Durch das Zusammenwirken technischer Vorgänge – darunter das Knüpfen, Montieren und Anbringen von Materialien – sind hier Kunstwerke entstanden, die in einen Austausch miteinander treten und den Versuch einer gemeinsamen künstlerischen Geste wagen. Der Ausstellungstitel „The Crip School, Teil II“  dient als Selbstermächtigung und Spitzname zugleich und adressiert all jene, die das Gewöhnliche und Erkennbare in Frage stellen und einen Weg außerhalb der normierten Erwartungshaltung einschlagen. Denn Herkunft, Bildung, politische Haltung, zugeschriebene Behinderung und Alter entscheiden allzu oft darüber, wie Künstler*innen in der Gesellschaft und auf dem Kunstmarkt „funktionieren“.

„Über das Funktionieren“, Zeichnungen: Selbermann, Grafik: Lutz Pillong, 2022
Das Umfunktionieren als Chance

Welche neuen Chancen und Spannungsfelder entstehen, wenn etwas umfunktioniert wird, zeigen neben den Arbeiten in der Ausstellung auch die Skulpturen von Julia Krause-Harder. Sie schafft eindrucksvolle, dreidimensionale Dinosaurier, die überwiegend aus gesammelten und gefundenen Materialien entstehen. Ihre Skulpturen sind weit gereist und waren unter anderem im Kunstzentrum 3331 Arts Chiyoda in Tokio, im Musée Visionnaire in Zürich und im Kunstforum Wien zu sehen. Auch der Künstlerkollege Hans-Jörg Georgi fertigte seine fantastischen Flugzeuge zunächst aus wiederverwendeter Pappe an. Aus der Not geboren, bot ihm der Papiermüll aus den Containern einer Werkstatt für behinderte Menschen die einzige Möglichkeit, an Materialien für seine künstlerischen Arbeiten zu gelangen. Bis heute ist Georgi der Pappe treu geblieben. Seine „Sechsgeschosser“ sind immer noch grau und werden mittlerweile international ausgestellt. Arbeiten des Künstlers befinden sich seit einem Jahr im Besitz des Centre Pompidou und manche von ihnen sind am 25. November bei dem „Tag der offenen Tür“ im Atelier Goldstein zu sehen.

Julia Krause-Harder, „Lesothosaurus“, 2021, Foto: Uwe Dettmar
Detail: Julia Krause-Harder, „Lesothosaurus“, 2021, Foto: Uwe Dettmar
Hans-Jörg Georgi, o.T., undatiert, Foto: Axel Schneider

Die Wiederverwendung von Materialien als künstlerische Praxis findet sich auch in den Arbeiten von Catharina Szonn. Für die Galerie erarbeitet die Frankfurter Künstlerin eine eigene Installation, die ab dem 15. Dezember zu sehen sein wird. Maschinen, die ihren ursprünglichen Zweck nicht mehr erfüllen, haucht Szonn neues Leben ein. In ihren raumgreifenden Installationen stellt sie Fragen nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Technologie, Fortschritt und Scheitern. Die von ihr verwendeten Maschinen und Geräte sind in ihrer Wirtschaftlichkeit bereits obsolet geworden. Szonn präsentiert sie in einem neuen Kontext und fragt, was passiert, wenn etwas nicht mehr oder einfach ohne Druck zur Leistung funktioniert?

Installationsansicht: Catharina Szonn, Trouble in Paradise, 2020, Foto: Fenja Cambeis
Detail: Catharina Szonn, Trouble in Paradise, 2020, Foto: Fenja Cambeis

Diese und weitere Fragen über das (Um)Funktionieren sind bis Januar 2023 auch das Motto des Rahmenprogramms der Goldstein Galerie. Ein Highlight ist das garantiert Knigge freie Dinner „Tafelzeug“: Jenseits der sogenannten Bestecksprache von Knigge werden die Galeriegäste hier ihr eigenes Besteck aus vorgegebenen Materialien gestalten – wodurch das gemeinsame Abendessen zum ultimativen Funktionstest wird.

„Über das Funktionieren“ in der Goldstein Galerie

Noch bis zum 31. Januar 2023

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