Die docu­menta zählt seit 1955 zu den wichtigsten Kunstevents Euro­pas. Eine Ausstellung im DHM Berlin zeigt, wie sie immer wieder für politische Zwecke instrumentalisiert wurde (und wird). Ein kritischer Blick in die Ausstellung.

Die documenta in Kassel zählt zu den renommiertesten Ausstellungsformaten Europas. Anfangs alle vier, dann alle fünf Jahre kommt die haute volée der Kunst- und Kulturszene zusammen, Tausende von Besucher*innen strömen zur documenta und machen aus ihr ein Event mit besonders hoher Strahlkraft. Somit wundert es nicht, dass die Ausstellungsreihe auch für politische Zwecke instrumentalisiert wurde und wird. Diesen Verknüpfungen spürt die derzeitige Ausstellung „documenta – Kunst und Politik“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin nach. Hier wird die Kunstausstellung selbst zum Untersuchungsgegenstand und als historisches Zeugnis befragt.

1955 fand die erste documenta statt. Zu der Zeit traten die Pariser Verträge in Kraft. Die BRD wurde Teil der Nato und Mitglied des westlichen Staatenbundes. Das Wirtschaftswunder nahm Fahrt auf. Zur gleichen Zeit verkündete der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow die „Zwei-Staaten-Theorie“ und die DDR wird zum souveränen Staat erklärt. Kassel liegt nahe der innerdeutschen Grenze. Mit dieser provokanten Setzung konnte die BRD sicher sein, dass ihre Botschaft in der DDR gesehen wurde. Die documenta sollte die Moderne rehabilitieren. Allerdings handelt es sich dabei gerade bei der documenta 1 nicht um irgendeine Moderne. Hier wurden Künstler*innen ausgestellt, die in der NS-Zeit verfemt wurden.

Die documenta sollte die Moderne rehabilitieren

Die documenta 1 bezog sich auf die nationalsozialistische Ausstellung „Entartete Kunst“. Unter den Nationalsozialisten wurden abstrakte, modernistische, gesellschaftskritische und politische Kunstwerke ebenso diffamiert wie jüdische Künstler*innen. 10 Jahre nach Kriegsende herrschte in Deutschland noch immer der Smog konservativer Kunstpolitik unter Adenauer. Die Künstler*innen der klassischen Moderne bekamen längst nicht dieselbe Anerkennung wie vor 1933. Für sie avancierte die documenta zu ihrer neuerlichen Bühne. So empfingen einen bereits am Eingang Fotoportraits der (männlichen) „Meister“ der klassischen Avantgarden, Frauen wurden hier jedoch nicht abgebildet und fanden auch kaum in der Ausstellung Platz.

Raumansicht der Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ © DHM/David von Becker
Bundespräsident Theodor Heuss auf der ersten documenta, links neben ihm: Arnold Bode documenta, 1955 © documenta archiv, Foto: Erich Müller

Die documenta griff mit diesen Kunstwerken eine künstlerische Ära auf, die den meisten Menschen schon vor der NS-Zeit eher fern lag und so wundert, dass sich in der ganzen DHM-Ausstellung bloß eine kritische Pressestimme aus der Zeit lesen lässt. Wurde die documenta direkt so positiv angenommen, wie suggeriert? Zweifel über die modernistische Kunst scheint es in der breiten Bevölkerung nicht mehr gegeben zu haben?

Erzählt wird in der DHM-Ausstellung jedenfalls eine Erfolgsstory. Ihr größtes Manko war nun gerade zur Anfangszeit aber die personelle Besetzung: Zwar wollte die documenta 1 demonstrieren, wie erfolgreich die re-education wirkte und mit welcher Emphase moderne Kunst in der BRD wieder aufgenommen wurde. Doch arbeiteten auf der documenta ehemalige NSDAP-Mitglieder. Namentlich wird in der Ausstellung im DHM der künstlerische Berater der ersten drei documenta-Ausstellungen Werner Haftmann ausgewählt. Dank neuester Forschungsarbeit des Historikers Carlo Gentile wird die Tragweite seiner NS-Vergangenheit dingfest gemacht.

Werner Haftmann und Arnold Bode bei der Eröff nungsfeier der documenta 3, 1964, documenta archiv © Wolfgang Haut, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Haftmann war ein hoch angesehener Kunsthistoriker und publizierte 1954 das Buch „Malerei im 20. Jahrhundert“. Heute kann man diese Publikation nur noch mit einem lauten Aufschrei kommentieren. Neben Pauschalisierungen und Vereinfachungen finden sich antisemitische Äußerungen, im Generellen wird ein Geschichtsnarrativ fortgeschrieben, das an die ersten Jahre der NS-Zeit erinnert, als noch unentschieden war, welches ästhetische Leitbild die NS-Ideologie eigentlich vertrat. Haftmann befürwortete moderne Stile wie den Expressionismus und legitimierte ihn mit Zuschreibungen einer nordisch-ursprünglichen Kunst. Ferner betitelte Haftmann die NS-Zeit als bloßen „Bildersturm“, eine auch bereits in den 1950er Jahren stark verharmlosende Beschreibung.

Diese Vorstellung der NS-Zeit wird schließlich auch auf der documenta fortgeschrieben. Ausgestellt wurden vor allem Künstler*innen, die nicht zu systemkritisch waren. So fehlen Positionen wie George Grosz oder John Heartfield und auch Otto Dix ist lediglich mit zwei eher seichten Porträts vertreten. Und es ist geradezu skandalös, wie beispielsweise Emil Nolde, der selbst mit der NS-Ideologie liebäugelte, auf der documenta reingewaschen wurde. Man dichtete ihm die innere Emigration zu. Jüdische Künstler*innen fehlten fast vollständig auf der ersten documenta. Das will die Ausstellung im DHM ändern: Allen voran wird hier dem 1944 verstorbenen jüdischen Künstler Rudolf Levy ein Forum geboten. Levy wurde nicht auf der documenta 1 gezeigt, obzwar er und Haftmann einander kannten.

Willi Baumeister (1889 - 1955), Monturi mit Rot und Blau I, 1953, documenta, 1955 bpk / Staatsgalerie Stuttgart © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Ausstellungsansicht, Jackson Pollock (1912 - 1956), Number 32, 1950, documenta 2, 1959 und documenta 3, 1964 bpk / Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Foto: Walter Klein © Pollock-Krasner Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Leider bleibt uns die Ausstellung just an dieser empfindlichen Stelle Antworten schuldig: Hätte Levy überhaupt auf der documenta ausstellen wollen? Egal wie diese spekulativen Fragen zu beantworten sind, in jedem Fall hatte er wie viele andere Künstler*innen, die vormals als „entartet“ galten und vor, während oder kurz nach Kriegsende verstarben, keine Lobby hinter sich. Gerade jüdische Kunstschaffende konnten in der Nachkriegszeit in Deutschland auf mein Netzwerk einflussreicher Galerien hoffen. Warum fokussiert die Ausstellung ausgerechnet auf Levy?

Die NS-Zeit blieb vorerst ein blin­der Fleck

Haftmann agierte publik, indem er das Vorwort für die documenta verfasste und die Eröffnungsrede hielt. Das erklärt, warum sich die Ausstellung im DHM auch ausschließlich an seiner Person abarbeitet. Jedoch waren nachweislich von den insgesamt 21 Beteiligten der ersten documenta 10 Mitglieder der NSDAP. Trotz dessen galt „die“ Moderne mit der ersten documenta als rehabilitiert. Die einst als „entartet“ eingestuften Werke gewannen wieder Zuspruch und wurden zu Vertretern der Kunstepoche vor 1933 und zur Vorläufern der Moderne nach 1945. Die NS-Zeit – und vor allem ihre unvorstellbaren Gräueltaten – blieben vorerst ein blinder Fleck. Erst Jahre auf der documenta 6 sollte mit Beryl Korots Videoarbeit „Dachau“ diese Leerstelle gefüllt werden.

Rudolf Levy (1875 – 1944), Selbstbildnis IV, 1943 © Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern (mpk), Foto: Gunther Balzer

DOCUMENTA. POLITIK UND KUNST

18. Juni 2021 – 9. Januar 2022, Deutsches Historisches Museum

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