So war es jedenfalls geplant. Ulay nannte sich selbst einen versteck­ten Künst­ler. Das ist nun allzu wahr geworden: Nach seinem Tod im März 2020 ist in Amsterdam gerade seine posthume Retrospektive (nicht) zu sehen.

Wer kennt Ulay nicht? Doch wer kennt Ulay und sein Werk wirklich? Ein Künstler, der ungemein einflussreich ist, bekannt für die Zusammenarbeit mit Marina Abramović, aber irgendwie seltsam versteckt, wenn es um sein umfangreiches, kraftvolles Einzelwerk geht – „schwer zu finden, zu kennen, kritisch in den Griff zu bekommen“, wie es der Theoretiker Dominic Johnson in einem Artikel so treffend formulierte. 

1943 geboren als Frank Uwe Laysiepen im deutschen Solingen, wuchs er in der Nachkriegsatmosphäre auf und ging Ende der 1960er Jahre nach Amsterdam. Dort schlug er trotz seiner nomadischen Lebensweise über 40 Jahre lang Wurzeln, bis er der Liebe wegen in die Hauptstadt Sloweniens, Ljubljana, zog. In Ljubljana lebte er bis zu seinem Tod im März 2020.

Ulay war ein Chro­nist der sozia­len Umwäl­zun­gen

Die Retrospektive „ULAY WAS HERE“ im Stedelijk Museum in Amsterdam ist die größte und erste internationale posthume Ausstellung des Künstlers und bringt Ulay zurück in die Stadt, die ihn so sehr beeinflusst hat und umgekehrt; Ulay war ein Chronist der sozialen und kulturellen Umwälzungen, die damals in Amsterdam stattfanden und einer der Mitbegründer von de Appel. Die Ausstellung untersucht sein umfangreiches Oeuvre und erweitert und vertieft die Vorstellungen von dem, was bisher präsentiert wurde. Die Bedeutung seines Werkes neu überdenkend, positioniert „ULAY WAS HERE“ den Künstler als Pionier der Polaroid-Fotografie, Performance und Körperkunst.

Ulay, Irritation. There is a Criminal Touch to Art, 1976 (Film Still) © the artist, courtesy ULAY Foundation

I’m not a signature artist

as moons and seasons and years change, so does my mind: change, change, change, through change consume change...

Identity through change...

Dies sind einige der ersten Zeilen, die Ulay im August 2015 in seine Notizen schrieb, als er sich auf die von Matthias Ulrich kuratierte Überblicksausstellung ULAY LIFE-SIZED in der Schirn 2016-2017 vorbereitete. Ulay selbst hat die Komplexität seines Werks bei mehreren Gelegenheiten ähnlich angesprochen und sein Oeuvre als „bizarr“ bezeichnet. „Mein Oeuvre ist so bizarr. Ich springe. Ich bin kein linearer, konsistenter, produzierender Künstler. Die meisten Künstler, wenn ihre Handschrift einmal erkannt ist, bleiben sie dabei. Für die Öffentlichkeit, für Kritiker und Sammler, und für den Markt ist das viel einfacher, bequemer. Meine Ambition ist fast das Gegenteil: Jedes Mal, wenn ich etwas Neues mache, wähle ich andere Motive, andere Techniken, andere Dimensionen und so weiter. Das kann sehr verwirrend sein, aber ich möchte auch Freude daran haben. (...) Und wenn es dann fertig ist, lasse ich es los.“  

Während es unmöglich ist, das vielfältige und komplexe Werk des Künstlers an der Schnittstelle von Fotografie und Performance in ein paar Sätzen zusammenzufassen, ist einiges aber sicher: Ulay hat die meisten Arbeiten in seinem Oeuvre als Projekte konzipiert. Jedoch nicht, um sie oder sich selbst zu rahmen, sondern um kollaborativ und im Kontakt mit dem sozialen Gefüge zu sein, um durch den Prozess offen für den Zufall zu sein. Sein großes Anliegen war es, so der Kunstkritiker Thomas McEvilly, stets eine „in sich kohärente Welt“ zu schaffen.

Mein Oeuvre ist so bizarr. Ich springe. Ich bin kein linea­rer, konsis­ten­ter, produ­zie­ren­der Künst­ler.

Ulay
Ulay, Invisible Opponent, 2016, Performance documentation, Photo: Mike Sommer

Darüber hinaus hat sich Ulay dem lebenslangen kreativen Prozess gewidmet, die Grenzen seiner eigenen Identität auszuloten, sei es durch die (Polaroid-)Fotografie oder das Medium des eigenen Körpers. Indem er sich selbst als fließendes Subjekt in Beziehung zum Anderen präsentierte - anderes Geschlecht; enger Freund, Partner oder Liebhaber; Mensch am Rande der Gesellschaft; Cross-Dresser, Eingeborener/Fremder; als Jedermann – schuf Ulay Gemeinschaft, erforschte Relationalität und führte uns dazu, über die Fluidität unseres eigenen multiplen Selbst nachzudenken: Wer sind wir und mit wem? „ULAY LIFE-SIZED“ war eine der ersten Ausstellungen von Künstler*innen, die es wagten, diese Frage zu thematisieren und zu vertiefen.

Wer sind wir und mit wem?

Sie wurde auch von Rein Wolfs, dem heutigen Direktor des Stedelijk Museum, besucht, der von Ulays Arbeit so beeindruckt war, dass er die gemeinsam mit Hripsimé Visser kuratierte Ausstellung „ULAY WAS HERE“ initiierte. Die Retrospektive wurde aus einer kunsthistorischen Verantwortung gegenüber Ulay und der Stadt Amsterdam im weiteren Sinne geboren (Ulay hat die Stadt unauslöschlich geprägt). So äußerte sich Wolfs in einem Interview mit Artnet News: „Angesichts des wachsenden Interesses an der Performancekunst von heute ist es an der Zeit, die Geschichte der Disziplin und die Hintergründe der Künstler, die sie geprägt haben, neu zu bewerten“.

Ulay, S'he, 1973–74, Copyright The Artist, Courtesy ULAY Foundation
Ulay, Renais sense Aphorism, 1972 © the artist, courtesy ULAY Foundation

„ULAY WAS HERE“ untersucht das Gesamtwerk des Künstlers. Sie führt den Betrachter von Ulays frühen Schreibmaschinen-Aphorismen und visueller Poesie aus den siebziger Jahren, über seine fotografische Dokumentation des damals anarchischen Amsterdam, bis hin zu seinen letzten Performances und performativ-fotografischen Arbeiten, die in den letzten drei Jahren seines Lebens (2016-2019) konzipiert wurden. Unter anderem sind erstmals ohne Copyright-Probleme (verschiedene Personen beanspruchten jahrelang das Eigentum an den Arbeiten) der ikonische Kunstraub „Irritation - There is a Criminal Touch“ (1976) und die vollständig chronologisch präsentierte „FOTOTOT“-Serie zu sehen, in der sich der Künstler mit der sich ständig verändernden Natur des fotografischen Bildes und dem Begriff des Live-Publikums auseinandersetzte.

Ausführlich präsentiert – in einer Ulay-Solo-Show – werden schließlich auch viele frühe und spätere gemeinsame Arbeiten mit Marina Abramović. Die Ausstellung hebt auch die eher meditativen, spirituellen und theatralischen Arbeiten von Abramović/Ulay hervor; zum Beispiel die großformatigen Polaroids ab 1980, die nicht Teil von „The Cleaner“, der Abramović-Wanderretrospektive waren.

Ulay & Marina Abramović, Relation in Time, 1977 © the artists, Courtesy ULAY Foundation and Marina Abramović Archives

Zwei Ereignisse prägten den gesamten Prozess der Ausstellungsvorbereitung: Ulays Tod am 2. März 2020 und die Corona-Pandemie, die weniger als zwei Wochen später Europa erreichte. Obwohl Ulay so energiegeladen, bescheiden und in die Vorbereitung involviert war, wirkte sich seine physische Abwesenheit auf die Retrospektive aus und beeinflusst immer noch Zeit und Raum. Genauso wie die Abwesenheit der anderen Körper aufgrund der Pandemie.

Während die Schirn-Ausstellung, wie Ulay sagte, mit dem Wunsch entstanden war, „eine wilde Schau ‚quer durch den Garten garten‘ für ein größeres Staunen“ zu präsentieren, ist die am Stedelijk nicht nur leer (immer noch!), sondern auch klarer fokussiert, kuratorisch formaler und traditioneller. Das resultiert nicht nur aus dem White-Cube-Rahmen der Galerieräume im Altbau des Stedelijk, sondern es sind auch die Covid-19-Vorschriften, die die Dramaturgie der Ausstellung, die Bewegung der Besucher*innen, die Erfahrung der Ausstellung an sich, die stärker reglementiert wurde als je zuvor, beeinflussten. Bei der Arbeit an der Ausstellung im ersten Jahr der Pandemie nach dem Tod von Ulay stand das ganze Team vor vielen Herausforderungen. Und das tun wir immer noch.

Installation view Ulay Was Here, Stedelijk Museum Amsterdam, 2020, Photo: Peter Tijhuis
Installation view Ulay Was Here, Stedelijk Museum Amsterdam, 2020, Photo: Peter Tijhuis
Installation view Ulay Was Here, Stedelijk Museum Amsterdam, 2020, Photo: Peter Tijhuis
Installation view Ulay Was Here, Stedelijk Museum Amsterdam, 2020, Photo: Peter Tijhuis

Ulay nannte sich selbst einen „versteckten Künstler“: „Ich habe so viele Dinge gemacht, von denen die Leute nichts wissen – sie können es nicht wissen, weil sie keinen Zugang zu meinem Archiv haben.“ Da die Ausstellung noch geschlossen ist, versteckt sich Ulay nicht, sondern wird in diesem Fall versteckt. Das ist schmerzhaft und frustrierend, gerade im Kontext einer solchen Präsentation. Mit Lena Pislak, Ulays Frau und mit ihm Mitbegründerin der ULAY Foundation, die zwischen Ljubljana und Amsterdam angesiedelt ist, haben wir von Monat zu Monat sehnsüchtig darauf gewartet, dass die niederländische Regierung die Schließungsmaßnahmen aufhebt... Da dies nicht machbar zu sein scheint, haben wir die Situation akzeptiert. Ulay hätte es würdevoll akzeptiert. Mit der monumentalen Stedelijk-Ausstellung – die hoffentlich bald an einen anderen Ort wandert – und dem steigenden Interesse an seinem Werk, das zu dessen Neukontextualisierung führt, war Ulay nicht nur hier, sondern ist hier, um zu bleiben. Das ist eine Tatsache. Auch, wenn es noch einige Zeit dauert, bis man seine Arbeit persönlich kennenlernt.

Ulay, Soliloquy, 1975 © the artist, courtesy ULAY Foundation
Gerade leider nicht zu sehen

ULAY WAS HERE

21. November 2020 – 30. Mai 2021 (geschlossen)

Alle Infos zur Aussstellung