Sie malte in immer wiederkehrenden Mustern ihre Angst, um sie so in Schach zu halten: Der Berliner Martin Gropius Bau widmet der 92-jährigen Yayoi Kusama eine umfangreiche, immersive Retrospektive.

Es ist fast schon ein bisschen zu viel nach so vielen Monaten der erzwungenen Kunstabstinenz: Im Lichthof des Gropius Bau winden sich gigantische, mit Luft gefüllte Tentakel bis unter das gläserne Dach; sie sind pink und mit großen schwarzen Punkten bedruckt – und ein eindeutiger Hinweis auf die „Queen of Polka Dots“, deren Lebenswerk hier auf 3.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche gehuldigt wird. Lebenswerk ist in diesem Fall der passende Begriff, fand die heute 92-jährige Yayoi Kusama doch bereits als junges Mädchen zur Kunst und kann mittlerweile auf rund 80 Jahre Schaffen zurückblicken.

Wie bringt man so viele Jahrzehnte in einer einzigen Ausstellung zusammen? Noch dazu von einer Künstlerin, die sich im New York der 1960er und 70er Jahre einen Namen mit ihren Happenings und temporären, dadurch aber schlecht konservierbaren Installationen machte und bis heute ununterbrochen Kunst produziert? Im Falle des Kreuzberger Museums entschied man sich für die klassische Variante – einem chronologischen Aufbau. Durch den zieht sich bereits von ihrer ersten Arbeit an ein roter Faden, oder besser gesagt, ein Punkt: Das Bleistift-Porträt, das die 1929 im japanischen Matsumoto geborene Kusama mit zarten zehn Jahren von ihrer Mutter anfertigt, ist bereits mit vielen kleinen schwarzen Tupfen durchsetzt.

Seit jeher über­la­gern Gitter­netze und Punkte ihre Wahr­neh­mung 

Was später zu ihrer künstlerischen Signatur wurde, kommt nicht etwa aus der Lust an der runden Form, sondern hat ihren Ursprung in Halluzinationen, unter denen Yayoi Kusama von klein auf leidet. Seit jeher überlagern Lichtblitze, Gitternetze und eben jene Punkte ihre Wahrnehmung der Welt, wobei letztere für sie keine harmlosen Kreise, sondern Löcher in andere Welten sind – und die sie in unzähligen Bildern und Skulpturen manifestiert, um ihre Angst vor ihnen im Zaum zu halten. Immer wieder tritt sie die Flucht nach vorn an, wandert 1957 in die USA aus, um dort ihr Glück in der Kunstwelt zu suchen. Es folgen einige Jahre in zugigen Zimmern und ohne Geld, doch Kusama malt immer weiter, versucht damit den nagenden Hunger zu überdecken. Die zu dieser Zeit entstandenen „Infinity Nets“, die das Thema Unendlichkeit und den Wunsch nach Selbstauflösung ausloten, verhelfen ihr zu ersten Ausstellungen in New York und damit zum Durchbruch.

Yayoi Kusama: Eine Retrospektive, Installationsansicht, 2021, Gropius Bau (c) Foto: Luca Girardini
Yayoi Kusama, Infinity Mirror Room — Love Forever, 1966/94 (c) YAYOI KUSAMA, Courtesy: Ota Fine Arts

1963 entwirft sie mit „Aggregation: One Thousands Boats Show“ die erste raumgreifende und begehbare Installation, die ein mit phallischen Strukturen gefülltes Boot zeigt und den Weg ebnet für eine neue Schaffensphase Kusamas: Von der zweidimensionalen Leinwand dehnt sie ihre Arbeiten auf den dreidimensionalen Raum aus und wird selbst ein Teil davon, liegt in knallroten Ganzkörperanzügen zwischen den plüschigen Skulpturen. Dass der Gropius Bau neben zahlreichen Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen mehrere dieser immersiven Installationen der 1960er Jahre in verkleinerter Form rekonstruiert hat, zählt zu den besonderen Stärken dieser Ausstellung, in der man sich bisweilen wie Alice im Wunderland fühlt.

Man fühlt sich wie Alice im Wunderland

Denn obwohl das museale Umfeld weit von der exzessiven Atmosphäre jener Happenings der „Swinging Sixties“ entfernt ist, bei der die Teilnehmenden nackt durch die Galerie tanzen und sich mit bunten Farben große Kreise auf den Körper malen, wird der Grundgedanke Kusamas in der Gropius-Ausstellung auf diese Weise deutlich: Wir tauchen mit ihr ein in die Phase der sexuellen Revolution, in der ein mit unzähligen Stoff-Penissen – selbstredend mit Polka Dots bemalt – gefülltes Spiegelkabinett („Floor Show“, 1965) den Besucher*innen die Möglichkeit gibt, für einen Abend ihre konservative Hülle fallen zu lassen. Auch hier wählt Kusama die direkte Konfrontation mit ihren, in diesem Fall sexuellen, Ängsten. Obwohl sie mit ihrem Versuch scheitert, die in den USA gelebte Freizügigkeit auch in Japan salonfähig zu machen, kehrt sie Ende der 1970er Jahre dauerhaft in ihr Heimatland zurück und lässt sich dort in eine psychiatrische Klinik einweisen – in der sie bis heute lebt.

Yayoi Kusama, Aggregation: One Thousand Boats Show, 1963 (c) YAYOI KUSAMA, Courtesy: Collection Stedelijk Museum Amsterdam
Yayoi Kusama, Infinity Mirror Room – Phalli’s Field, 1965 (c) YAYOI KUSAMA, Courtesy: Ota Fine Arts, Victoria Miro

Kusama entwirft in den folgenden Jahren zwar weiterhin Installationen und schreibt mit „Manhattan Suicide Addict“ sogar einen Roman, widmet sich jedoch zunehmend wieder der Malerei. Bis heute ist sie ununterbrochen künstlerisch tätig, unzählige Leinwände sind mit den altbekannten Gitternetzen, Linien und Polka Dots bedeckt und füllen in der Ausstellung in Petersburger Hängung gleich mehrere Räume. „Es gibt für mich kein größeres Vergnügen, als mir vorzustellen, dass mein kreativer Geist, meine Erwartungen an die Kunst und meine Leidenschaft auch nach meinem Tod noch spürbar sein mögen“, schreibt Yayoi Kusama im Vorwort zu ihrem Buch „All about my love“. Dass es so sein wird, daran besteht kein Zweifel.

Yayoi Kusama, Portrait (c) YAYOI KUSAMA, Courtesy: Ota Fine Arts, Victoria Miro & David Zwirner

Yayoi Kusama: Eine Retrospektive

23. April bis 15. August 2021 (zurzeit geschlossen), Gropius Bau Berlin

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