Mit jedem Klick hinterlassen wir Spuren. Der Privatraum löst sich auf. Welche Folgen diese Überwachung hat, zeigt nun ein groß angelegtes Kunstfestival in Stuttgart.

Wir betreten einen leeren, weißen Raum. Gut sichtbar hängt eine Kamera von der Decke. Klar, was einen jetzt erwartet – man wird ins Visier genommen, gefilmt, überwacht. Doch diese Kamera scheint anders zu funktionieren. Nähert man sich ihrem Sichtfeld, wendet sie sich ab. Wenn man versucht, von ihr eingefangen zu werden, dreht sie sich weiter. Man könnte dieses Spiel endlos fortsetzen. 

Doch schnell wird klar, dass diese Kamera – im Gegensatz zu all den anderen sichtbaren und unsichtbaren Kameras, die uns im Alltag umgeben – darauf programmiert ist, nichts und vor allen Dingen niemanden zu sehen. Sie sendet das Bild eines leeren Raums an den Bildschirm, der im nächsten Raum hängt. Die „Shy Camera“ von Gregor Kuschmirz ist Teil der Ausstellung „Unter Beobachtung“ in der Villa Merkel in Esslingen. Und diese wiederum ist Teil des Festivals „Unter Beobachtung. Kunst des Rückzugs“, das die Kulturregion Stuttgart vom 25. September bis zum 18. Oktober 2020 ausrichtet. 

Wo fängt das Private an, wo hört es auf?

Sowohl die Ausstellung in Esslingen als auch die anderen Festivalbeiträge an 21 Orten in und um Stuttgart werfen Fragen nach dem eigenen, privaten Selbst und dem öffentlichen Raum auf. Wo fängt dieser an? Wo hört er auf und wo hat er seine Grenzen? Wo nehmen Kameras unsere Bewegungen wahr, wie scannen sie unser Verhalten auf mögliche Abweichungen von der „Norm“, auffälliges Verhalten? Doch auch unsere eigene Selbstpreisgabe ist immer wieder Thema. Alex Verhaest bringt das treffend auf den Punkt, wenn sie sagt: “My freaking phone knows more about me than my mother does“. Die Künstlerin präsentiert in der Esslinger Ausstellung ihre Arbeit „Idle Time / Temps Mort (Dinner Scene)“, welche die Besucher*innen per Anruf vom eigenen Mobiltelefon aktivieren können. Einmal mehr wird klar, wie wir alle von unseren Smartphones abhängen. Und besonders in den letzten Monaten soziale Medien den Kontakt zu anderen garantieren, sich Arbeitsplätze und Lernorte plötzlich nur noch virtuell abbilden. 

Esther Hovers, False Positives, 2016, Foto: Frank Kleinbach © KulturRegion Stuttgart, 2020
Alex Verhaest, Temps Mort/Idle Times, Foto: Frank Kleinbacj © KulturRegion Stuttgart, 2020

Sind wir als Gesellschaft auf dem Weg zur totalen Sichtbarkeit? Soll die Bürgerschaft lückenlos überwacht werden? Und wer bemächtigt sich der Unmengen an Daten und Informationen? Diese Fragen schlagen die Brücke zur Ausstellung „We Never Sleep“ in der Schirn. Doch bei all den Gedanken über Spionage, vermeintliche staatliche Überwachung, Datenspeicherung und Algorithmen, die Gesichter erkennen und Bewegungsmuster erstellen, wo gibt es da eigentlich noch Rückzugsräume? Was sind die Refugien unserer Zeit? 

Es gibt keine Chance für einen Rückzug

Daniel Beerstecher schlägt mit seiner Arbeit die Meditation als „Last Place of Refuge“ vor. Er meditiert während der Festivallaufzeit täglich sechs Stunden, man kann live vor Ort teilnehmen oder ihn online dabei beobachten. Oder kann der weiße Raum aus Edward Hoppers Arbeit „Sun in an Empty Room“, wo nur das Spiel von Licht und Schatten wichtig ist, ein Rückzugsraum sein? Bernd Oppls Arbeit „I’m after me“ stellt diesen Raum im Stadtpark in Leonberg nach. Besucher*innen können eintreten, selbst Teil dieses Licht- und Schattenspiels werden. Doch auch hier keine Chance zum Rückzug, eine Kamera filmt den Raum rund um die Uhr. 

My freaking phone knows more about me than my mother does.

Alex Verhaest über ihre Arbeit in der Ausstellung
Daniel Beerstecher, Last Place of Refuge, 2020 © Daniel Beerstecher
Bernd Oppls, I’m after me, Leonberg 2020 © Rimini Protokoll

Vielleicht müssen wir radikaler denken? Verspricht erst der eigene Tod wirklichen Rückzug? Zumindest starten Rimini Protokoll ihr Projekt „Remote Ludwigsburg“ auf dem Friedhof als endgültigem, ultimativem Refugium. Aber von hier ausgehend bietet der partizipative Audiowalk durch Ludwigsburg noch ganz andere Möglichkeiten an. Den Rückzug in einen leeren, leisen Kirchenraum. Und im Gegenzug ein volles, lautes Einkaufszentrum. Doch geleitet von Gedanken über Selbst- und Fremdwahrnehmung, über das eigene Verhalten innerhalb einer Gruppe, einer Herde (oder Horde?) kann auch der Walk durchs Einkaufscenter zur meditativen Übung werden.

Die eigene Wahrnehmung wird geschärft, der Stadtraum als Bühne ganz bewusst wahrgenommen. Wer Zeit mitbringt, kann an den verschiedenen Festivalorten und auf den Wegen zwischen diesen Orten, an Bahnsteigen, in S-Bahnen, in Parks und auf Marktplätzen noch weitere solcher Übungen in bewusster Wahrnehmung anstellen. Und das eigene Selbst, den öffentlichen Stadtraum und die eigene Individualität und Privatheit innerhalb dieses Systems reflektieren. 

Rimini Protokoll, Remote X © Anastasiia Fateeva
Festival der KulturRegion Stuttgart 2020

Unter Beobachtung. Kunst des Rückzugs

25. September –18. Oktober 2020

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