Ist Motto und Leitfrage des diesjährigen Japanischen Filmfestivals Nippon Connection. Ab jetzt im Livestream: Von Zombie-Roadmovies, über die Freude an einem Glas Grappa bis hin zu hart erkämpften Gefängnis-Dokus.

Nur wenige Kinos sind inzwischen wieder geöffnet. Unter den Auflagen lässt sich das für etliche Filmtheaterbetriebe kaum rentabel umsetzen. Die ersten Filmkritiken, die man dieser Tage wieder lesen kann, wirken – wie so vieles aktuell – als Verstärker der grotesken Lebensrealität: Fast alles wie immer, aber eben oft nur theoretisch vorhanden. Auch Filmfestivals wie die Frankfurter Institution Nippon Connection, das weltweit größte Festival für japanischen Film außerhalb des Landes, verlegen ihr Programm wo möglich in den digitalen Raum – immerhin kann man so einiges streamen, das man auf Netflix und andernorts vergeblich suchen würde.

Wie in jedem Jahr gibt es einen besonderen Schwerpunkt. Unter dem Titel „Female Futures?“ werden Frauenbilder im japanischen Kino befragt – und dabei natürlich auch etliche Titel von Filmemacherinnen gezeigt, die in Japan erst seit den frühen 2000er Jahren ins traditionell hierarchische Produktionssystem vordringen. Vermissen wird man in diesem Jahr allerdings das schon klassische Nippon Connection-Rahmenprogramm: Japanische Spielhölle, Kirin-Bier mit Eiskrone, Vorträge und Kurse von Origami bis Teezeremonie. Zumindest letztere finden aber teilweise online statt.

Allein mit den Filmen des diesjährigen Schwerpunktprogramms könnte man mühelos die Festivaltage verbringen. Sehenswert zum Beispiel „甘いお酒でうがい (My Sweet Grappa Remedies)“ von Akika Ohku, die wie Hauptdarstellerin Yasuku Matsuyuki in Deutschland keine Unbekannte ist (Matsuyuki gewann 2014 den Silbernen Bären in Berlin): Hier berichtet 40-something Yoshiko, unverheiratet, kinder- und partnerlos, über ihre Vorliebe für ein Gläschen Grappa oder Rotwein nach Feierabend. Die Frage, was andere wohl über sie denken mögen, kann ihr den Genuss trotzdem nicht verhageln. Viele Mikrobeobachtungen später wird es nicht mehr nur um Alkohol gehen, sondern um Freundschaft, Arbeit, Liebe und die Anforderungen, eigene mit gesellschaftlichen Vorstellungen unter einen Hut zu bringen. Dies alles mühelos erzählt, mit einem tollen minimalistischen Soundtrack und ohne falsche Sentimentalität gespielt.

Akika Ohku, My Sweet Grappa Remedies (Filmstill), Courtesy the artists

Am entgegengesetzten Ende von „leichtfüßig“ kommt diese Protagonistin daher: „生理ちゃん (Little Miss Period)“ ist ein tollpatschig stapfendes, überdimensioniertes rosa Plüschwesen, das Frauen einmal im Monat heimsucht und dabei regelmäßig auf die Nerven geht. Das allgemein ungeliebte und seinerseits nicht immer charmante Wesen verwandelt sich mal zur Empowerment-Gefährtin, die männliche Vorgesetzte zu Boden boxt, mal zur allgemeinen Liebes- und Lebensberaterin. Interessant auch, dass als männliches Pendant zu „Little Miss P.“ ausgerechnet ein Wesen namens „Mr. Sex Drive“ ins Feld geführt wird. Im stellenweise etwas holprigen Drehbuch könnte man durchaus einen Hinweis darauf sehen, wie schwierig ein gesellschaftliches Tabuthema wie das der weiblichen Periode (sicherlich nicht nur in Japan) überhaupt als Film zu behandeln wäre. Sowohl für die Comic-Vorlage als auch für die Verfilmung zeichnet übrigens ein Mann verantwortlich – hier Regisseur Shunsuke Shinada.

Wie behandelt man das (Tabu)thema der weib­li­chen Peri­ode als Film?

Neben etlichen Deutschland- oder Europapremieren hat die Nippon Connection auch in diesem Jahr wieder internationale Premieren im Programm: so auch Eiichi Imamuras Spielfilmdebut „ビューティフル、グッバイ (Beautiful, Goodbye)“. In einer fulminanten und desorientierenden Montage handelt Imamura in nur wenigen Minuten die Exposition ab: ein blutverschmiertes Messer liegt auf dem Boden, der Teekochtopf pfeift, der junge Blogger Shinoda beginnt zu rennen. Auch Natsu rennt, allerdings ist sie auf der Flucht vor einem Mann, der ihr in eine düstere U-Bahn-Station folgt. Verängstigt durch den immer schneller aufschließenden Verfolger, macht sie einen falschen Schritt, stürzt und landet schließlich im Leichenschauhaus.

Shun­suke Shinada, Little Miss Period (Filmstill), Courtesy the artists
Shun­suke Shinada, Little Miss Period (Filmstill), Courtesy the artists
Shun­suke Shinada, Little Miss Period (Filmstill), Courtesy the artists
Eiichi Imamu­ra, Beautiful, Goodbye (Filmstill), Courtesy the artists

Nur wenig später treffen die beiden Protagonisten aufeinander und „Beautiful, Goodbye“ gibt Zeit, das Gesehene einzuordnen: Shinoda hat im Affekt einen Mann getötet, der sein Kind misshandelte. Auf der Flucht vor der Polizei trifft er auf die just von den Toten auferstandene Natsu, die auch als selbsternannter Zombie (mit vollem Bewusstsein) vor ihrem Freund flieht. Eiichi Imamura konzentriert sich fortan in seinem Erstlingswerk mehr auf seine Figuren denn um Vorgaben des Genres und kreiert nebenbei vielleicht noch ein ganz eigenes: das Zombie-Roadmovie. 

Über sechs Jahre musste Kaori Saka­gami auf ihre Geneh­mi­gung warten

Über sechs Jahre musste die Dokumentarfilmemacherin Kaori Sakagami auf eine Genehmigung warten, um ihren Dokumentarfilm „Prison Circle“ im Shimane Asahi Rehabilitation Program Center in Shimane drehen zu dürfen. Die Gefängnisanstalt ist ein Novum in Japan: Dort sitzen die Gefangenen nicht nur in Einzelzellen ihre Haftstrafe ab, sondern können seit 2008 erstmals an einem therapeutischen Programm (sogenannten TCs, „therapeutic communities“) teilnehmen. Über zwei Jahre begleitete Sakagamis, die zuvor schon Filme über das US-amerikanische Gefängniswesen gedreht hatte, vier Häftlinge und zeigt diese in Einzelinterviews und bei den regelmäßigen Treffen der TCs. Dort versuchen die Inhaftierten unter Begleitung von Therapeuten Beweggründe für ihr Verhalten aufzuarbeiten und dabei nachzuvollziehen, welche Auswirkungen ihre Straftat auf die Opfer hat.

Eiichi Imamu­ra, Beautiful, Goodbye (Filmstill), Courtesy the artists

So sprechen die Delinquenten bemerkenswert offen über ihre Scham und verdrängte Traumata.  Auch oder vielleicht gerade ohne Off-Kommentar der Regisseurin – Sakagami beschränkt sich lediglich auf informative Zwischentitel – wird die tiefe Empathie der Dokumentarfilmerin gegenüber den Inhaftierten offenbar. Vor allem aber gewährt „Prison Circle“ einen so nie vorhandenen Einblick in das Gefängniswesen Japans und somit vielleicht auch in den Zustand der japanischen Gesellschaft, deren Grad an Zivilisation man Dostojewski zu Folge bekanntlich am Umgang mit ihren Gefangenen ablesen kann.

Von Leihfamilien, animierten Kurzfilmen und Frauen im japanischen Kino

Außerdem freuen darf man sich zum Beispiel auf „Family Romance LLC“ von Werner Herzog, der sich im Alter als einer der amüsantestesten Dokumentarfilmer der Welt herausstellt, wie 2016 auch mit einer poetischen SciFi-Arbeit im Double Feature unter Beweis gestellt. Hier widmet er sich japanischen Leihfamilien, die gegen Geld soziale Bindungen vorspielen. „Female Futures?“ zeigt außerdem die Kurzfilmreihe „Constant Metamorphosis – Independent Animated Shorts By Women“ und bietet Vorträge im Livestream an – am 11. Juni um 18.30 Uhr wird Japanologie-Doktorin Chantal Bertalanffy über Frauen im japanischen Gegenwartskino referieren.

Werner Herzog, Family Romance LLC (Filmstill), Courtesy the artists
Nippon Connection, Constant Metamorphosis (Filmstill), Courtesy the artists
Yoko Yuki, Constant Metamorphosis (Filmstill), Courtesy the artist
Yoko Yuki, Constant Metamorphosis (Filmstill), Courtesy the artist

Nippon Connection

Ab sofort bis 14. Juni, Streaming jederzeit, Vorträge zu festen Zeiten

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