Die amerikanische Künstlerin Channa Horwitz wurde in einer von Männern dominierten Kunstwelt zu Lebzeiten kaum wahrgenommen. Dabei waren ihre zarten und präzisen Arbeiten ihrer Zeit voraus.

Wie auf senkrecht gezeichneten Notenlinien tanzen kleine, farbige Quadrate, es ergeben sich Muster und Farbverläufe. In winzigen Buchstaben stehen Ziffern daneben. Eine Legende am Bildrand gibt Hinweise zur Entschlüsselung der Komposition. In ihrer Werkserie „Sonakinatography“ arbeitete Channa Horwitz (1932-2013) mit einem selbst erdachten Notationssystem, das mit Graphen, Zahlen und Farben Bewegung, Klang und Rhythmus unter raumzeitlichen Bedingungen darstellt. Ein Zoll steht für einen Pulsschlag, einen „Beat“ - Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Jeder Ziffer wird eine Farbe zugeordnet. Mit dieser deduktiven Logik, die sie ihre „visuelle Philosophie“ nennt, lässt Horwitz eine Vielzahl an Werken entstehen, die in ihrer Präzision verblüffen und einen ganz eigenen ästhetischen Reiz besitzen.

Channa Horwitz, Sonakinatrography XVIII, 1991, Estate of Channa Horwitz. Courtesy of the Estate of Channa Horwitz and François Ghebaly, Los Angeles.© Channa Horwitz. Photograph by Robert Wedemeyer

Channa Horwitz, die am California Institute of the Arts unter anderem bei Allan Kaprow studierte, bewirbt sich 1968 mit ihrem Projekt „Suspension of Vertical Beams Moving in Space“ für die Ausstellung „Art & Technolog“ im Los Angeles County Museum of Art. Sie fertigt die Skizze für eine kinetische Skulptur mit acht vertikalen Plexiglaselementen, die, durch Magnete angezogen und von je vier Lichtkegeln begleitet, sich zwischen zwei horizontalen Plattformen bewegen. Diese technische wie poetische Arbeit wurde zwar weder in der Ausstellung gezeigt noch jemals realisiert – was nicht überrascht, da sowohl der Technologiebereich als auch die Kunstszene in Los Angeles absolute Männerdomänen darstellten – doch gab sie Ausschlag für die Entwicklung der Sonakinatography-Serie.

Struktur als Grundlage für Freiheit

Seitdem entwickelte Horwitz über 20 Kompositionen, die nicht nur als zeichnerische Systeme funktionieren, sondern ebenso gut als Musikstück, Performance oder Rauminstallation interpretiert und umgesetzt werden können. Die Künstlerin entwickelt selbst Performances und Tanzstücke, lädt aber auch immer wieder andere ein, die Notationen zu interpretieren. So ergeben sich aus ebenjenem strengen, eng gesteckten System unzählige Variationen und Möglichkeiten. Und darum ging es Horwitz: „Durch die Begrenzungen und Struktur, die ich meinen Werken auferlege, erfahre ich Freiheit. Denn nur scheinbar sind Limitation und Struktur das Gegenteil von Freiheit. Ich bin dahin gekommen, sie als Synonyme und als Grundlage für Freiheit aufzufassen.“

Channa Horwitz, Language: Series Three, 1964, Estate of Channa Horwitz. Courtesy of the Estate of Channa Horwitz and François Ghebaly, Los Angeles.© Channa Horwitz. Photograph by Robert Wedemeyer

Auch in ihrer „Language Series“ (eine Werkreihe, die sie 1964 begann, doch erst in den 2000er-Jahren umsetzte) oder „Circle and Square“ (1966) limitiert Horwitz bewusst ihre Wahlmöglichkeiten: „Ich beschloss, den Kreis und das Quadrat zu verwenden, um alle Formen darzustellen, und schwarz und weiß, um alle Farben darzustellen.“ In der „Language Series“ verwendet die Künstlerin entweder das amerikanische Graph Paper mit seinem typischen orangefarbenen „Grid“ oder zeichnet selbst ein Gitter, auf dem sie Quadrate und Kreise anordnet. Sie gruppiert die Formen, erprobt Verschiebungen und Überlagerungen, dekliniert zahlreiche Konstellationen durch. Auch hier gibt ein auf der Zahl Acht basierendes, numerisches System die Struktur vor: Acht auf acht kleine Kästchen ergeben ein großes, und so weiter. Bei der Anfertigung der 16 „Circle and Square“ Arbeiten folgt Channa Horwitz einer genauen Anleitung:

1. Setze zwei Rechtecke (ein großes und ein kleines) zufällig auf ein weites Feld.

2. Zeichen jeweils einen Kreis, der jedes der Rechtecke umfängt.

3. Zeichne einen Kreis um das Zentrum des Gesamtrahmens

4. Male jenen Teil von jedem Rechteck, der außerhalb von Kreis Nr. 3 liegt, mit einem dunkleren Farbton aus.

Channa Horwitz


Diese Schritte erinnern sprachlich zwar an eine Aufgabenstellung aus einem Lehrbuch für Mathematik, für Channa Horwitz waren Anleitungen wie diese allerdings Teil eines Systems, das ihr immer wieder die Möglichkeit gab, mit den elementarsten Formen, die uns umgeben und unsere Wahrnehmung prägen, zu experimentieren und nachzuforschen – was passiert, wenn …? Der Zufall interessiert sie dabei nicht. Oder vielmehr: sie glaubt nicht an ihn. „Mein Werk basiert auf der Theorie, dass die Struktur nur lange genug wirken muss, um scheinbar zufällig zu werden. Sie wird nicht zum Zufall, sie wird nur als solcher erscheinen.“

Channa Horwitz, 8 Different Angels #9, 1999 / photo courtesy Kunstsaele Berlin

Jahrzehntelang entwickelt Horwitz ihre Arbeiten beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ohne aktive Anbindungen zur Kunstszene. In einem Zeitraum von 30 Jahren wurden ihre Arbeiten in nicht mehr als etwa einem Dutzend Ausstellungen gezeigt. Obwohl sie ihr Interesse an Reduktion und minimaler Ästhetik durchaus mit (männlichen) Zeitgenossen teilte und in der heutigen Rezeption Parallelen zu Künstlerinnen wie Hanne Darboven gezogen werden, sollte es dauern, bis ihr Werk im offiziellen Diskurs angenommen wird. Erst in diesem Jahr widmete das KW Institute for Contemporary Art in Berlin Horwitz mit „Counting in Eight, Moving by Color“ ihre erste umfassende Einzelausstellung. Große Schauen wie die 55. Venedig Biennale 2013 und die Whitney Biennale 2014 machten Horwitz' Werk einem internationalen Publikum zugänglich.

Trotz – oder vielleicht gerade aufgrund – dieser Quasi-Isolation feilte Channa Horwitz beharrlich an ihrer Universalsprache. Heute zeigt sie uns die Welt in ihrer komplizierten Einfachheit.