Traum, Imagination und Illusion: Winsor McCay erweitert die Grenzen des Comic und lässt seinen Helden Nemo ans Ende der Welt und weit darüber hinaus reisen – bis er aus seinem Traum aufschreckt.

Nacht für Nacht wird der kleine Nemo nach Slumberland („Schlummerland“) gelockt, um dort der Spielgefährte der Prinzessin, Tochter des König Morpheus zu werden. Eine Blaskapelle nimmt ihn in Empfang. Er steigt in eine Kutsche, die von Kaninchen und Gänsen gezogen wird und fliegt auf einem riesigen Geier in Richtung Schloss. Doch auf dem Weg dorthin wacht er immer wieder wie von einem Alptraum geschüttelt in seinem zerwühlten Bettchen auf. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelingt es den Bewohnern von Slumberland: Nemo schläft weiter und trifft die Prinzessin. Mit ihr und dem Zigarre rauchenden Flip erkundet er nun fantastische Welten. Er wird winzig wie ein Zwerg oder klettert als Riese über Häuser hinweg, er reist im Maul eines Drachen, wird von Piraten entführt und fliegt zum Mond.

Winsor McCay, Little Nemo in Slumberland, The New York Herald, 8. September 1907, Detail

Mit „Little Nemo in Slumberland“ gelang dem Illustrator und Zeichner Winsor McCay (1836-1934) ein visuell eindrucksvolles und extrem umfangreiches Werk. Von 1905 bis 1911 wurden Nemos Abenteuer jeden Sonntag ganzseitig und in Farbe in der Zeitung „The New York Herald“ abgedruckt und wurden so, neben „Dream of the Rarebit Friend“ die wohl bekannteste Comicserie McCays, und auch die auflagenstärkste: insgesamt 549 Seiten produzierte McCay in jenen Jahren. 1908 wurde „Little Nemo in Slumberland“ als das bis dahin teuerste und aufwendigste Broadway-Stück inszeniert.

Tatsächlich beginnen die Figuren zu tanzen

Nach über 100 Aufführungen in New York ging das Stück auf Tournee durch das ganze Land. Drei Jahre später fertigte McCay einen kurzen animierten Trickfilm mit dem Titel „ Little Nemo, also known as Winsor McCay, the Famous Cartoonist of the N.Y. Herald and His Moving Comics“. Hier verweist der Zeichner als Schöpfer der Traumwelt von Nemo auf sich selbst und wird als „the first artist to attempt drawing pictures that will move“ im Vorspann angekündigt. Und tatsächlich beginnen seine Figuren zu hüpfen und zu tanzen, nachdem er sie mit Tinte auf Papier gebracht hat.

Winsor McCay, Dream of the Rarebit Fiend, Los Angeles Sunday Times, 16. März 1913

So testete und erweiterte McCay die die formalen Grenzen des Comic und experimentierte mit Anordnung und Bildaufbau. Er lässt seine Figuren aus dem Bildraum ausbrechen und die Lettern der Titelschrift verspeisen. Auch die Panele selbst werden aus ihrer statischen Struktur befreit. Mit der flexiblen Anordnung und den variierenden Größen dynamisiert McCay seine Erzählung und spielt mit optischen Illusionen.

Baumstämme werden zu Nashörnern

So erstrecken sich Szenarien über mehrere Panele und nicht selten ergeben sich aus Eislandschaften, Soldatenheeren oder Palastarchitekturen kaleidoskopische Muster. Traum, Imagination und Illusion sind, formal wie inhaltlich, die bestimmenden Themen in „Little Nemo“. Und wenn Baumstämme zu Nashörnern werden, sich ein kleines Mädchen in eine alte Hexe verwandelt oder aus Palastsäulen plötzlich ein dichter Wald wird, wacht Nemo im letzten Panel doch immer wieder auf, wird von seinen Eltern geweckt oder fällt aus seinem Bett.

Winsor McCay, Little Nemo in Slumberland, New York Herald, 2. Februar 1908

Mit Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“ (1865) und Sigmund Freuds Schrift „Die Traumdeutung“ (1900, die englische Übersetzung erschien 1913) wurde der Traum zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum wichtigen Thema im kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs und mit dem Surrealismus auch zur Inspirationsquelle für die bildende Kunst. Die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten, Absurden und Fantastischen gab, wie im Fall der Psychoanalyse, Aufschluss über verdrängte Wünsche oder Störungen, oder ermöglichte, wie im Surrealismus, die Erschließung neuer Wahrnehmungs- und Erfahrungsformen.

Die Grenzen zwischen Bild und Leben

Die ambivalente Faszination für den Traum kommt bei McCay auf einzigartige Weise zum Ausdruck. Denn nicht selten bewegt sich Nemo weitaus ängstlicher durch seine verstörenden Traumwelten als seine Freundin, die abenteuerlustige Prinzessin, und wünscht sich anschließend, er würde nicht ständig böse träumen.

Winsor McCay, Little Nemo in Slumberland, Sonntagsseite The New York Herald, 23. September 1906

Letztlich sind bei „Little Nemo in Slumberland“ nicht nur die Grenzen zwischen Bild und Leben fließend. Auch überlappen sich Traum und Realität und bringen Nemo an Orte, die außerhalb von Zeit und Raum zu existieren scheinen. Als das Jahr 1906 zu Ende geht, finden sich Nemo und die Prinzessin in einer kahlen Landschaft wieder. „Es sieht schrecklich hier aus!“ - „Das ist das Ende der Welt!“ Dort treffen sie auf einen alten Mann mit einem langen Bart und einem zerrissenen Gewand. „Sei nicht so traurig, Herr 1906. Du hast dein Bestes getan!“ Gevatter Zeit erscheint auf einer Kutsche und überreicht den beiden ein kleines, blondes Baby: „Hier ist der neue, kleine 1907. Da nimm ihn“ -„Oh! Du kleiner Schatz! Schau Nemo, hier ist das neue Jahr!“

Winsor McCay, Little Nemo in Slumberland, Sonntagsseite, The New York Herald, 3. Dezember 1905, Detail