Unsere Gemeinschaft basiert auf einem beständigen Geben und Nehmen. Doch wie verhält sich die Kunst in diesem sozialen Gefüge?

„Sich weigern, etwas zu geben, es versäumen, jemanden einzuladen, sowie es ablehnen, etwas anzunehmen, kommt einer Kriegserklärung gleich; es bedeutet, die Freundschaft und die Gemeinschaft verweigern.“ Dies schreibt der französische Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss in der Einleitung zu seinem Werk „Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften.“ von 1950. Das Geben und Annehmen von Geschenken, die materiellen oder symbolischen Wert haben können, ist elementar für das Zusammenleben als Gemeinschaft.

Marcel Mauss, Image via alchetron.com

Mehr noch: die Tauschsysteme, die Mauss untersucht hat, können als prä-monetäre Handelsformen gesehen werden, die bestimmten moralischen und ökonomischen Bedingungen unterlagen und deren Grundzüge auch in unseren heutigen Gesellschaften noch Gültigkeit besitzen. Die wichtigste Erkenntnis: Ein empfangenes Geschenk muss unter allen Umständen erwidert werden. Denn: „Es ist vollkommen logisch, dass man […] dem anderen zurückgeben muss, was in Wirklichkeit ein Teil seiner Natur und Substanz ist; denn etwas von jemand annehmen heißt, etwas von seinem geistigen Wesen annehmen, von seiner Seele; jemandem etwas geben heißt so viel, wie jemand etwas von sich selbst geben.“

Aufmerksamkeit schenken

Ein Lied als Geschenk – in Lee Mingweis Performance „Sonic Blossom“ widmen Opernsängerinnen jeweils einem Museumsbesucher ein „moving lied“, wie der Künstler sie nennt, von Franz Schubert. Die Sänger fragen, „Darf ich dir ein Geschenk geben?“ und falls der Zuhörer einwilligt, wird er zu einem Stuhl im Ausstellungsraum geführt und kann die Darbietung genießen. Lee Mingwei geht es hier um Teilhabe, aber vor allem um das Teilen eines flüchtigen Moments und das Eingehen einer momenthaften Beziehung zwischen schenkender und beschenkter Person, die im Gegenzug ihre Zeit und Aufmerksamkeit gibt.

Lee Mingwei, Sonic Blossom, Installationsansicht Städel Museum, © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2017, Foto: Neven Allgeier

Schirn Interview. Lee Mingwei

Für jedes Geschenk, das die Künstlerin Micol Hebron an die Teilnehmer ihrer Lecture Performance „Petting Zoo“ bei der Armory Show 2013 in New York verteilt, forderte sie eine Gegenleistung. Zum Beispiel ein selbstgemaltes Bild von einem süßen Tier. Während die Besucher die Enten oder Schafe streicheln, hält Hebron einen Vortrag über den Begriff „Cute“, also das Phänomen des Niedlichen, und händigt Präsente aus – insgesamt 60 Stück während der 60-minütigen Performance. Hebron erforscht hier das Potential gemeinschaftlicher Aktivitäten genauso wie die Ökonomie des Schenkens.

Kunst, Markt, geschenkt

„Take Me I’m Yours“ heißt die Ausstellung, in der die Museumsbesucher die ausgestellten Werke nach Herzenslust ausprobieren, benutzen, kaufen oder einfach mitnehmen können. 1995 fand die Schau, kuratiert von Hans Ulrich Obrist, das erste Mal in London statt, in den letzten Jahren wurde sie in Paris und New York wieder aufgelegt. Das Künstlerduo Gilbert & George verschenkt Anstecknadeln, Hans-Peter Feldmann bringt eine Sammlung von Pin-Up Fotografien aus den 1940er-Jahren mit, die Besucher bedienen sich an Felix-Gonzalez-Torres’ in Silberfolie gewickelten Pfefferminzbonbons.

Félix González-Torres, Take Me I’m Yours, Image via thejewishmuseum.org

Als die Gruppenschau 1995 das erste Mal gezeigt wurde, lag der Kunstmarkt mehr oder weniger brach. In „Take Me I’m Yours“ bewegt sich der Status der Kunst, mit einer durchaus kritischen Geste, weg vom sakralen Objekt hin zum Massenprodukt. Heute sieht die Situation anders aus, am Kunstmarkt werden wieder Rekordsummen erzielt. Die spannende Frage bleibt jedoch: Wie ändert sich der Umgang mit Kunst, wenn diese sich als Ware, als Souvenir, als Geschenk darbietet? Und was geben wir zurück?

Geben und Nehmen

Als Marcel Mauss die Funktion der Gabe untersuchte, stellte er fest, dass der Austausch in den archaischen Gesellschaften nicht unbedingt zwischen Individuen, sondern vor allem zwischen Clans, Stämmen oder Familien stattfand. Getauscht werden konnte alles, nicht nur Güter und Reichtümer, sondern auch Höflichkeiten, Essen, Rituale, Tänze oder Feste. Das gegenseitige Geben und Nehmen beinhaltet also nicht nur eine moralische und wirtschaftliche Komponente, sondern auch eine ästhetische.

Hans-Peter Feldmann, Take Me (I'm Yours), Image via socialmediafeed.me

Übertragen auf unsere heutigen Gesellschaften stellt Mauss fest, dass ein großer Teil unserer Moral noch immer in jener Atmosphäre der Verpflichtung zur Gabe steht. Wir wetteifern untereinander mit Weihnachtsgeschenken, Hochzeitsfeiern oder Einladungen und fühlen uns verpflichtet, uns zu „revanchieren“. Doch was ebenfalls geblieben ist, ist die Empfindung der Freude am Schenken, daran, etwas Schönes weiterzugeben. In der Hoffnung, dass es irgendwann zu einem zurückkehrt.

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