Drei aktuelle, kritische Perspektiven auf ganz unterschiedliche Landschaften und Kulturen: Jumana Manna, Renzo Martens und Lydia Ourahmane tauchen mit ihren künstlerischen Langfilmen in andere Welten ein.

Die Politik der Kräuter

Die Kräuter Akkoub (Gundelia) und Za’atar (wilder Thymian) mögen hierzulande eher weniger bekannt sein, im Nahen Osten sind sie dagegen ein alltäglich genutztes Lebensmittel. Und wie bei so vielem bekommt das Alltägliche in dieser Region oft eine politische Komponente: „Za’atar, like hummus, has become another symbol of the Israeli-Palestinian conflict“ schrieb 2017 beispielsweise die israelische Tageszeitung Haaretz. Beide Pflanzen werden vor allem in der West Bank seit Generationen von der lokalen Bevölkerung gesammelt und anschließend verarbeitet, bis genau dies aus Naturschutzgründen von Israel Nature and Parks Authority schließlich verboten wurde.

Jumana Manna, „Foragers", 2022, Filmstill, © The Artist und Hollybush Gardens, London
Ein schlechter Witz?

Der Film „Foragers“ von Jumana Manna fokussiert die Absurditäten rund um das Verbot mit trockenem Humor und mischt dabei dokumentarische und Archivaufnahmen mit selbst inszenierten Abschnitten. Parkranger durchsuchen die Landschaft nach Wildsammlern, die zerstechen ihnen die Reifen; wir sehen Bewohner*innen des Westjordanlands, darunter auch die Eltern der Künstlerin, auf der sorgfältigen Suche nach den begehrten Kräutern, die in der nächsten Szene in der heimischen Küche zubereitet werden. Jumana Manna inszeniert auch Verhöre in Behörden, die sie anhand von realen Fällen mit einem Juristen ausgearbeitet hat: hier streiten Vorgeladene das Pflücken ab, berufen sich auf Eigenbedarf oder gestehen ganz frei ein, dass sie sofort wieder Akkoub oder Za’atar sammeln werden. Ein Ordnungsgeld wird für alle gleichermaßen angeordnet, ungeachtet des Umstands, dass auch die Behördenmitarbeiter*innen selbst das Verbot teils absurd zu finden scheinen. Während die Welternte von Za'atar bereits seit Ende der 1970er-Jahre sanktioniert wurde, landete Akkoub erst 2005 auf der Liste der schützenswerten Arten.

Jumana Manna, © Foto: Luca Guadagini

Ausschlaggebend hierfür war eine Studie aus dem Jahr 1995, in der das kommerzielle Ernten aus ökologischen Gründen problematisiert wurde. Das später per Gesetz ein generelles Verbot der Wildernte durchgesetzt wurde, schockierte selbst den Autor der Studie. Im Hinblick auf die kommerzielle Kräuterproduktion innerhalb Israels, die wiederum in der West Bank keine Abnehmer findet, fügt das Gesetz dem Konflikt um die Pflanzen eine kapitalistisch-politische Dimension zu, die neben der sich auf Traditionen und Gebräuche beziehenden Debatte stets im Hintergrund schwebt. Im alltäglichen Streit um die Kräuter kam den Wildsammlern im Westjordanland 2019 die NGO Adalah zu Hilfe, die das Gesetz vor dem Obersten Gerichtshof Israels anfechten wollte. Dazu kam es indes nicht mehr, denn kurze Zeit später änderte die Naturschutzbehörde die Regelung und erlaubte das Ernten von Akkoub und Za’atar für den Eigengebrauch.  

Jumana Manna, „Foragers", 2022, Filmstill, © The Artist und Hollybush Gardens, London
Vom Regenwald in die Kunstwelt

"The white man is uncomfortable to see you up there. Cut and get down!" ruft jemand dem Mann zu, der lediglich mithilfe eines simplen Gurts bis zum Wipfel einer Palme hochgeklettert ist. Der Mann heißt Mathieu Kilapi Kasiama, und er entfernt kurz darauf mit ein paar gekonnten Schlägen das Fruchtfleisch jener Pflanze, aus der Palmöl gewonnen wird. Mit dieser Szenerie beginnt Renzo Martens Film „White Cube“ am Rande eines kongolesischen Regenwalds. Die kurze Sequenz führt ohne Umschweife ein in die komplexe Themenwelt, die in den folgenden 77 Minuten ausgebreitet wird: der Lebensalltag im Kongo, White Fragility und Saviorism, Ausbeutung, Kolonialgeschichte, Neokolonialismus, Kapitalismus und, wie der Titel bereits andeutet, was der Kunstmarkt mit all dem zu tun hat.

Renzo Martens, „White Cube", 2020, Filmstill, © Renzo Martens / Human Activities, 2020

Die Demokratische Republik Kongo gehört trotz ihrer immensen Bodenschätze zu den ärmsten Staaten der Welt. Bevölkerung und Land wurden im Rahmen des europäischen Kolonialismus systematisch durch Sklavenhandel und Raub der Bodenschätze entvölkert und ausgebeutet, die ganz realen Auswirkungen ziehen sich bis in die Gegenwart. 1911 hatte beispielsweise die belgische Kolonialverwaltung William Lever, Gründer des Unilever Konzerns, Ländereien im Kongo für zahlreiche Palmölplantagen überlassen, die die neuartigen Seifenprodukte des Konzerns überhaupt erst ermöglichten. Der Name Unilever dürfte vielleicht manchen Kunstinteressierten ein Begriff sein, sponsert der Konzern doch weltweit Museen und Ausstellungen, unter anderem die Tate Modern in London. 2011 zog sich der Konzern aus den kongolesischen Plantagen zurück, die heute teilweise immer noch von Firmen wie dem kanadischen Feronia-Konzern betrieben werden. Dessen Arbeiter*innen verdienen hier nach Steuerabzug weniger als 18 Dollar im Monat.

Renzo Martens, „White Cube", 2020, CATPC-Mitglieder (v.l.) Olele Mulela Mabamba, Huguette Kilembi, Mbuku Kimpala, Jeremie Mabiala, Jean Kawata, Irene Kanga, Ced’art Tamasala and Matthieu Kasiama im Filmstill, © Renzo Martens / Human Activities, 2020
Ein Projekt, das zum Scheitern verurteilt ist

In diese Ausbeutungsgeschichte tauchte 2014 plötzlich der Weiße Holländer Renzo Martens – samt Anzughose, weißem Hemd und Strohhut – in Lusanga, ehemals Leverville, auf, das bis in 1990er-Jahre das Zentrum der Palmölproduktion Unilevers bildete. Bereits Renzo Martens kontrovers besprochener Film „Episode III: Enjoy Poverty“ (2008) war im Kongo gedreht worden. Vor Ort hatte der Künstler ein „Emanzipationsprogramm“ angeleitet, in dem er der verarmten Bevölkerung anriet, von ihrer größten Ressource, der Armut, zu profitieren – Fotograf*innen sollten so lieber Bilder des Krieges und des örtlichen Leids dokumentieren und an den Westen verkaufen, als Hochzeiten oder Partys zu knipsen. Eine Revolte, deren Scheitern – Fördergelder und Erfolg für den Künstler, unveränderte Verhältnisse vor Ort – in der Prämisse für Martens neue Arbeit mündete: “Can a film or a critical intervention have benefits on a plantation rather than in an art center, a white cube, in a wealthy place?”, wie der Künstler später zusammenfasste.

Konkret ermutigte Martens die Arbeiter*innen einer Plantage dazu, Kunst zu kreieren, die er im Westen schließlich verkaufen und deren Erlöse dann zu 100 % zurückfließen sollen. Diesen ebenfalls zum Scheitern verurteilten Versuch zeigt Renzo Martens im ersten Drittel von „White Cube“, im zweiten Teil des Films startet er einen weiteren Anlauf – wieder auf einer ehemaligen Plantage in Lusanga, auf der auch Mathieu Kilapi Kasiama lebt.

Renzo Martens, © Foto: 2020 Max Pinckers

„Für das Jubiläum nehmen wir uns besonders viel Zeit und widmen uns mit drei ausgewählten Beiträgen dem künstlerischen Langfilm, der sich aktuell großer Beliebtheit erfreut und den wir stilecht im Kino genießen und feiern wollen.“

Matthias Ulrich, Kurator des Double Feature

Die mehrschichtige Erzählung, in deren Verlauf der Filmemacher seine eigene Verwobenheit in den kapitalistischen Ausbeutungsprozessen nicht verhehlt und immer wieder droht, in einer Meta-Erzählung zwischen abgeklärtem Zynismus und White Saviour Komplex heillos verloren zu gehen, ist eine diffizile Gratwanderung sondergleichen. Eine Gratwanderung, deren Sinn- geschweige denn Kunsthaftigkeit sich ungeachtet von westlich-akademischen Diskursen jedoch auch an dem Resultat messen lassen muss. Hier zeigt sich tatsächlich eine konkrete Verbesserung der Lebensumstände der Bewohner*innen von Lusanga – inklusive Landrückkauf, dem Aufbau der kongolesischen Künstler*innengruppe CATPC sowie dem Bau eines White Cubes inmitten von Lusanga samt Diskussionen um die Rückführung von afrikanischer Raubkunst. Alle Problemstellungen rund um Kunst, Kapitalismus, Ausbeutungsverhältnisse, Kunstmarkt und Kunstförderung sind damit bei weitem nicht aufgelöst, werden hier aber unter der Beteiligung der Betroffenen angegangen.

Renzo Martens, „White Cube", 2020, Matthieu Kasiama (CATPC) im Filmstill, © Renzo Martens / Human Activities, 2020
Menschenleere Wüstenräume

Über 72.000 km² erstreckt sich die Gebirgskette Tassili n’Ajjer in Südost-Algerien inmitten der Sahara, die seit 1982 als UNESCO Weltkulturerbe anerkannt ist. Von dem Wasser, das einst die Gesteinsformationen des als Nationalpark ausgewiesenen Gebiets formte, ist dort bis auf einen einzigen Fluss und einige Teiche nicht mehr viel geblieben. Tassili n’Ajjer ist für die Öffentlichkeit heute nicht mehr zugänglich; einzig algerische Touristen dürfen unter Führung der Tuareg, die bis zur Vertreibung seitens der Regierung in dem Areal lebten, das Gebiet besuchen.

Die in Algerien geborene Künstlerin Lydia Ourahmane verschafft nun in ihrer Videoareit „Tassili“ Einblick in das menschleere, klimatisch überaus extreme Gebiet. Mit einigem bürokratischen Aufwand war es der Künstlerin gelungen, das algerischen Kultusministerium als Unterstützerin für das Projekt zu gewinnen. So erhielt Ourahmane die Erlaubnis für eine 13-tägige Wanderung unter der Führung von Tuareg.

Lydia Ourahmane, „Tassili", 2022, Filmstill, © Lydia Ourahmane

Zum ersten Mal seit Jahren durften dabei auch internationale Gäste, Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen der Künstlerin, teilnehmen. „Tassili“ nun bietet einen seltenen, faszinierenden Einblick in jenen Teil der Sahara-Region. Gänzlich unkommentiert fängt die Kamera die monumentalen Gesteinsformationen und Höhlen von Tassili n’Ajjer ein, durchschreitet im Schritttempo bei Tag und Nacht die Schluchten entlang ausgetrockneter Flussbetten und verliert sich in der unbarmherzigen, epochalen Natur. Immer wieder fährt die Kamera langsam Felswände ab, auf denen sich prähistorische Zeichnungen und Wandmalereien befinden, deren Alter bis zu 12.000 Jahren zurückreicht – insgesamt wurden über 15.000 solcher Kunstartefakte von Archäologen vor Ort ausgemacht.

Lydia Ourahmane, „Tassili", 2022, Filmstill, © Lydia Ourahmane

Das Filmformat wechselt zwischenzeitlich und zeigt digitale Animationen und 3D-Scans der Umgebung, die bisweilen kaum noch vom echten filmischen Bild zu unterscheiden sind. Das Sounddesign sowie die Musik von vier Komponist*innen teilen den Film derweil auf der Tonebene lose in vier Abschnitte. Die Regie des gut 45-minütigen Films hatten im Grunde die Tuareg-Führer inne, so Lydia Ourahmane. Für die Indigenen Berber sind derlei Touren aktuell die einzige Möglichkeit, in das Gebiet zurückzukehren. Den Filmaufnahmen der Landschaft wie auch der prähistorischen Malereien und Zeichnungen haftet eine existentialistische Dimension an, die in der Geschichte der Menschheit immer wieder mit der extremen Landschaft der Wüste in Verbindung gebracht wurde. „In the desert, we stare death in the eye, and this is a miracle”, so der lybische Schriftsteller Ibrahim al-Koni, der selbst unter den Tuareg aufgewachsen ist. „The desert is the only place where we can visit death and return home safely.”

10 YEARS OF DOUBLE FEATURE

MITTWOCH, 31. MAI 2023, AB 17 UHR, ELDORADO KINO, EINTRITT FREI

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