Der mexikanische Künstler Gabriel Kuri balanciert mit seinen fein komponierten Arbeiten gekonnt auf der Schneide von Perfektion und Bescheidenheit.

Die höchste aller Künste besteht bekanntlich darin, ein Werk zu erschaffen, das mühelos leicht daherkommt, hinter dem aber tatsächlich größte Sorgfalt und somit ein gerütteltes Maß an Arbeitsleistung stecken – wie auch immer man diese im Einzelnen (als tatsächliche körperliche Arbeit, Ideenfindung, als Summe jahrzehntelanger Erfahrungen und somit wiederum Routine und Arbeit) definieren mag. Und wenn dieses Prinzip für einen guten Popsong gilt, dann mit Sicherheit auch für die Bildende Kunst und hier zum Beispiel für Gabriel Kuri: Sein Selbstporträt gehört auf den ersten Blick nicht zu den lautesten Arbeiten in der aktuellen ICH-Ausstellung, doch genau deshalb lohnt sich hier der zweite, dritte, vierte.

Eine Meeresschnecke, eingerollt in eine goldene Isolierfolie, die wiederum umrahmt von einer filigranen Schnur, unter der eine Aluminiumdose klemmt: Kuris „self-portrait (with hollow egg) as early peak chart“ scheint Konkretum und Abstraktion in Vollendung, ohne dass die einzelnen Attribute sich hierdurch auflösen würden. In seiner Reduktion auf wenige, offenbar rohe Ausgangsmaterialien ist das Werk fernab einer inhaltlichen Bestimmung genau das, was es vorgibt zu sein. Vier Dinge, ein Titel: Konkreter geht es nicht. Im selben Atemzug aber bleibt das Selbstbildnis natürlich absolut vage: Was soll der Titel schon bedeuten? Rekurriert das „hohle Ei“ auf eine Form des Gebärens, oder führt die Assoziation ins Leere? Und um welche Art von Kunstwerk handelt es sich hier nun überhaupt?

Ein synästhetisches Gespür fürs Material

Schon in der Form nämlich muss eine nähere Bestimmung fehlschlagen: Als Künstler beschäftigt sich Kuri zwar auch mit Fotografie und Collagen, aber vornehmlich mit der Kunst in ihrer dreidimensionalen Form. Das skulpturale Selbstporträt allerdings wird nicht im Raum platziert, sondern an die Wand gehängt, etwa auf Augenhöhe des Betrachters, und ähnelt damit schon viel eher einer Assemblage. Und auch sonst lässt sich nichts bestimmen, wie sich scheinbar alles bestimmen lässt: Sind das ein paar zusammengesuchte Materialien in einer Version von What You See Is What You Get? Oder soll sich hier, der leicht kryptische Titel deutet es möglicher Weise an, tatsächlich nicht weniger als die große Weltformel entfalten?

Gabriel Kuri, self-portrait (with hollow egg) as early peak chart, 2012, Ausstellungsansicht ICH, Photo: Schirn Kunsthalle Frankfurt, Norbert Miguletz 2016

Dieses Straucheln in der Schwebe bei gleichzeitiger Reduktion aufs Nötigste (was in diesem Fall immer noch fantastisch und gar ein wenig glamourös, weil absolut filigran zusammengestellt ausschaut), lässt sich vielleicht als Quintessenz von Gabriel Kuris Arbeiten ausmachen. Zum schwebenden Charakter passt auch, dass die Schnur die ganze Zusammenstellung nur so gerade eben zusammenzuhalten scheint. Die drohende Zerstörung des Werks, sein mögliches Auseinanderbrechen sind ihm quasi als negatives Vorzeichen eingewebt; die Faszination dafür, dass eben dies nicht geschieht, umso größer. Ansonsten – kein Gramm zu viel, kein Material zu wenig, und wenn das Ganze allzu harmonisch wirkt, dann kommt gegebenenfalls die Asymmetrie: Das sind pure Präzision und ein Gespür für Materialität, als ob der Künstler Goldfolie und Faden, Marmorplatte und Milchglasscheibe in einer irgendwie synästhetischen Weise selbst erfahren könne. Aber wer weiß.

Ich, das sind viele

Dabei nutzt Kuri zwar gern, aber nicht ausschließlich Alltagsmaterialien: Auch der oben genannte Marmor beispielsweise findet den Weg in seine Skulpturen und Installationen – er wird aber ebenso subtil eingesetzt wie alles übrige und hat somit gar nichts mehr von der brachialen Qualität steinerner Skulpturen. Geboren wurde Gabriel Kuri 1970 in Mexiko-Stadt, wo er später auch die National School of Arts besucht. Am Londoner Goldsmith College vertieft er seine Studien, inzwischen lebt der Bildhauer im kalifornischen Los Angeles. Das Selbstporträt nimmt einen von mehreren wiederkehrenden Schwerpunkten in seiner Arbeit ein, neben dem in der SCHIRN präsentierten Werk fertigte Gabriel Kuri eine ganze Reihe ähnlicher Werke an, vom „self-portrait with a symmetrical ripple effect…“ bis zum „self-portrait with a basic symmetrical distribution loop“. Dieselbe Ausgangsbasis (unter anderem Isolierfolie und Muschel), unterschiedliche Anordnungen: Ich, so legt die Werkserie nahe, das sind viele Variationen und Versionen. Die Summe lässt sich dabei immer wieder auf die ähnlichen einzelnen Teile zurückrechnen.

Gabriel Kuri, Self portrait as symmetrical ripple effect in distribution loop, 2014, Image via luizabrenner.com

Wenn man sich an der Oberfläche abgearbeitet hat und über die Titel mögliche Inhalte anvisiert, dann eröffnet Gabriel Kuris Werk etliche weitere Optionen zur Vertiefung: Allein zum Thema Exponentialfunktionen hat er eine ganze Serie mit zahlreichen Arbeiten angefertigt, die sich wiederum durch einen spezifischen Fundus an ähnlichen Materialien in verschiedensten Kombinationen auszeichnet. Bilaterales Wachstum als eine Aufreihung von Glaszylinder mit Muschel, Waschbeton und Schaumstoff, und dann ein Titel, der in der einen oder anderen Form auf exponentielles Wachstum rekurriert: Versinnbildlicht dies den okkulten Charakter eines Wirtschaftssystems, das man verstehen, aber niemals begreifen kann?

Jetzt wir die Sache erst richtig interessant

Vermutlich ist das ganz Konkrete aber auch hier nur eine Art Köder, eine besondere Handfertigkeit des Gabriel Kuri. Der gar nicht erst vorgibt, dass Inhalte tatsächlich in der Kunst irgendwie vollständig aufgehen könnten, sondern sich ganz auf diese Position, die künstlerische also, konzentriert. Wo manch anderes Werk im Wust markiger Worte und dahin gerotzter Nonchalance mitunter eher wirkt, als gelte es die totale Ahnungslosigkeit möglichst pompös zu überspielen, wollen Kuris fein komponierte und gegenüber anderen wenig aufsehenerregenden Skulpturen, Collagen und Selbstporträts dem Anschein nach nicht mehr sein, als sie sind. Doch gerade deshalb könnte eine Beschäftigung über das Begutachten dieser perfekten und doch so bescheiden daherkommenden Chimären hinaus die Sache erst richtig interessant werden lassen.

Gabriel Kuri, Platform I (flattened filters), 2012, Image via sadiecoles.com