Die hohe Priesterin, die Kaiserin & der Tod. Über Tarotkarten und ihre Bedeutung

Es ist ein kalter Märzmorgen mit strahlend blauem Himmel und ich sitze an meinem Küchentisch in Cambridge. Der Screen meines Laptops ist dunkel, während ich auf die Tarotkarten-Leserin Sunny warte, mit der ich auf Zoom über Tarot, ihre persönliche Geschichte als intuitive Person und Niki de Saint Phalles Tarotgarten in Garavicchio in der Toskana sprechen werde. Sunny wird am 18. März bei SCHIRN at Night die Karten legen! Als der Bildschirm zum Leben erwacht, sehe ich Sunny auf dem Boden im Schneidersitz sitzen vor einem großen weißen Schrank mit kleinen silbernen Türknäufen – von einem baumelt eine anthrazitfarbene Quaste. Ihre lockigen blond-braunen Haare fallen weit über ihre Schultern und sie trägt einen flauschigen, rosafarbenen Fischerhut.

Hallo Sunny, schön dich kennen zu lernen! Lass uns direkt anfangen: Kannst du uns einen Überblick über Tarot im Allgemeinen geben?

Ja klar, ich benutze Tarot vor allem, um Klarheit für Lebensübergänge und unangenehme Situationen zu schaffen. Das großartige an Tarotkarten ist, dass sie mit Bildern kommen, auf die sich die Person beziehen kann. So kann man die Bilder als Visualisierung der Karten nutzen, um ihre Bedeutung zu erklären, fast so, als würde man eine Geschichte erzählen. Wenn jemand zum Beispiel aktuell ganz viele Jobinterviews hat und wissen will, wie die laufen, dann kann man eine einfache Frage stellen, Klarheit für die Interviewsituation herstellen und die nächsten Schritte ansprechen, die die Person tun könnte. Ich persönlich gebe nie Ja- oder Nein-Antworten. Ich denke einfach, dass die Leute, die zu mir kommen, ihre eigenen Entscheidungen treffen sollten.  

Das verstehe ich. OK, lass uns ein paar Basics besprechen. Wie sehen die Karten aus? Wie läuft eine einfache Tarot-Lesung ab?

OK, lass mich mal schnell ein paar Karten holen.

Sie springt auf und ich kann sehen, dass sie eine kurze Jeanshose und eine durchsichtige schwarze Strumpfhose mit schwarzen Punkten trägt. Als sie sich wieder hinsetzt und anfängt, die Karten zu mischen, fällt mir eine Tätowierung auf, ein schwarzes Tribal, das sich von ihrem rechten Handgelenk bis zur Mitte ihres Handrückens rankt.

Wie viele andere Tarotkarten auch haben die hier die traditionellen Rider-Waite Illustrationen, die die meisten Leute kennen.

Ich denke, dass jeder, ob er sich nun schon mal die Karten hat legen lassen oder nicht, diese Illustrationen schon einmal gesehen hat.

Sie hält die Kaiserin in die Kamera und ich muss unwillkürlich lächeln, ist das doch eine der Hauptfiguren in Niki de Saint Phalles Tarotgarten, auf die wir auch in diesem Interview noch zurückkommen werden.

Es gibt unterschiedliche Arten, die Karten zu legen. Man kann zum Beispiel Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft legen, das sind normalerweise drei Karten. Ich bin aber mehr interessiert am intuitiven Kartenlegen, dabei erlaube ich den Karten sozusagen sich selbst zu präsentieren. Sie fallen zum Beispiel aus dem Deck, während ich mische und daraus entsteht dann ein Gespräch. Wir fangen vielleicht mit einer Frage an und ich ziehe ein paar Karten, dann müssen diese ausgelegt werden und so entsteht schnell ein hin und her mit der Person, für die ich lege. So kann ich die besten Hinweise geben, damit sich jede selbst ihre Fragen beantworten kann.

Fast wie in einer Therapiesitzung, oder?

Ja genau (*lächelt*), das kann einer Therapiesitzung sehr ähnlich sein! Manchmal weinen die Leute sogar, wenn wir besonders sensible Themen ansprechen, die sie lange verdrängt haben und dann eine Karte gezogen wird, die genau das bestätigt, was sie im Geheimen schon lange gefühlt haben, dann brechen manchmal alle Dämme. Es kommt aber auch sehr darauf an, wie offen die Person ist, das anzunehmen, was die Karten ihr sagt.

Dann musst du oft aus dem Bauch heraus entscheiden, oder? Wenn du so ganz ohne Vorwissen reingehst…

Sie wirft beide Arme in die Luft und strahlt mich an wie eine Lehrerin, die besonders stolz auf eine ihrer Schülerinnen ist, die endlich etwas Wichtiges begriffen hat.

Ja genau, ich weiß absolut gar nichts im Vorhinein! Ich kenne die Person nicht, die mir die Fragen stellt und online [sie arbeitet für die App Sanctuary] kann ich nicht mal das Gesicht der Person sehen, alles was ich habe ist der Name und Geburtstag und dann starten wir einfach eine Unterhaltung. Nicht nur muss ich alle Informationen von den Karten kriegen, ich muss mich wirklich auf die Situation einlassen, um die Karten richtig deuten zu können. Karten haben nämlich oft mehrere Bedeutungen und können sowohl positiv als auch negativ interpretiert werden. Während ich also versuche eine Geschichte zu erzählen, muss ich besonders auf die Energie im Raum achten und darauf vertrauen, dass ich die richtige Lesart für die spezifische Person, mit der ich gerade rede, finde.

Gibt es eigentlich unterschiedliche Kartenstile?

Man kann die Karten verändern, wie man mag. Zum Beispiel für SCHIRN AT NIGHT hat Niki de Saint Phalle die Karten kreiert, die ich dann legen werde. Aber normalerweise nutzen die meisten die traditionellen Figuren…

Macht Sinn! OK, lass uns jetzt zu Niki de Saint Phalles Tarotgarten in Italien kommen. Ich dachte, ich könnte dir etwas über ein paar der Figuren im Garten erzählen und du könntest mir sagen, was diese Figuren im Tarot symbolisieren. Zusammen könnten wir rausfinden, welche Elemente vom traditionellen Tarot in die Skulpturen des Gartens eingeflossen sind.

Klingt gut!

Super! Dann lass uns mit der Kaiserin anfangen. Im Garten ist sie eine massive weibliche Sphinx in blau mit einer roten Krone. Sie ist groß wie ein Haus und diente der Künstlerin tatsächlich als Lebensraum für die Bauzeit des Tarotgartens (20 Jahre!). Sie hat besonders große Brüste, die ein Schlafzimmer und die Küche beherbergen, und der Innenraum der gesamten Figur ist mit Spiegelbruchstücken verkleidet. Was repräsentiert die Kaiserin im Tarot? Mal schauen, ob wir eine Verbindung herstellen können.

Die Kaiserin hat viele unterschiedliche Bedeutungen, aber sie lässt sich am besten auf das Reinhorchen in die eigene Weiblichkeit zusammenfassen. Es geht um das Gebären der eigenen Leidenschaften, der eigenen Projekte. Sich um sich selbst kümmern sowie um andere. Oder mehr noch sich um sich selbst kümmern, während man sich um andere kümmert.

Hm ich denke das Gebären der eigenen Leidenschaften lässt sich deutlich in der Skulptur erkennen.

Auf jeden Fall! In der Skulptur zu leben macht sie zum Hauptort, an dem sie besonders viel geboren hat im Sinne von der Ideenfindung und Kultivierung des restlichen Gartens und wie sie diesen gestalten würde. Definitiv große Kaiserin-Energie!

Und wenn ich so drüber nachdenke, könnte man den Innenraum der Skulptur auch als Mutterleib verstehen. Die Künstlerin gebiert sich sozusagen selbst…

Wow, genau!

Dann lass uns den Tod als nächstes machen. Der Tod im Garten hat zwar das Gesicht eines Skeletts aufgemalt, der Körper ist aber der einer üppigen Frau, ähnlich der Nana-Skulpturen, für die die Künstlerin bekannt ist. Er reitet auf einem blauen Pferd über einen grünen See aus dem Glieder herausragen und nach ihm greifen.

OK, das ist der Illustration der Todeskarte sehr ähnlich. Diese Arme und Hände, die aus dem Wasser kommen und nach dem Skelett auf dem Pferd greifen. Aber der Tod ist sowohl etwas Beängstigendes als auch etwas Schönes. Der Körper, der immer noch gesund, attraktiv, einfach am Leben ist, spricht zu der Bedeutung des Todes von Wiedergeburt. Ähnlich wie der Phoenix: Immer wenn man stirbt wird man auch wiedergeboren, um Dinge besser zu machen als vorher. Um neue Verbindungen zu knüpfen, um neu anzufangen.

Ein tolles Bild! Ich habe mich gefragt, ob es Karten gibt, die in besonderer Beziehung zueinanderstehen. Es gibt diese Skulptur im Garten, die die Hohe Priesterin, den Magier und das Schicksalsrad fast kombiniert…

Hm, das könnte einfach eine Kartenlegung gewesen sein. Eine Tarotlesung, die die Künstlerin selbst hatte oder die sie vielleicht sogar selbst gelegt hat. Wir könnten uns das in dieser Art und Weise denken. So bekommen zufällig gezogene Karten eine Bedeutung und können eine Geschichte erzählen oder eine Nachricht weiterleiten.

Wow, diese Idee gefällt mir sehr. Sie fügt eine weitere Ebene zum Garten hinzu. Nicht nur sind die Figuren nicht nur einfach nebeneinander, sondern ihre Kombination erzeugt eine Verbindung und erfüllt sie mit Bedeutung. Und es ist absolut normal im Tarot mehrere Karten zu ziehen und sie dann in Beziehung zueinander zu stellen, oder?

Man kann theoretisch eine Lesung mit nur einer Karte machen, aber ja normalerweise werden immer drei oder mehr Karten zusammengelesen.

Dann wäre es ja total stimmig, wenn man diese drei Teilskulpturen als eine große Ganze lesen würde. Letzte Frage: Mir ist aufgefallen, das Tarot immer mehr in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Ist dir in den letzten Jahren ebenfalls aufgefallen, dass Tarot an Popularität gewonnen hat?

Ich denke, dadurch dass vieles jetzt online ist, macht es Tarot zugänglicher und Kartenleger können eine breitere Masse erreichen. Also, ja, ich denke es wird immer beliebter. Wir leben auch in einer neuen Generation, in der es nicht mehr so ein Tabu ist, über Tarot, Astrologie, Esoterik etc. zu sprechen. Leute sind definitiv offener für alternative Konzepte und Ideen. Viele haben sich schon mal die Karten legen lassen oder kennen jemanden, der eine Tarot-Lesung hatte, manche haben sogar ihre eigenen Karten zu Hause und legen sich die Karten selbst. Es gibt einfach viel mehr offenen Dialog über Tarot als jemals zuvor!