Angefangen bei seiner Liebe zur Musik, dem Zerwürfnis mit Picasso bis hin zu der Frage, welche seiner Schaffensphasen von Heringen begleitet war.

1. „Mit diesen Bildern schaffe ich mir […] meine eigene Heimat.“

Kleine Holzhäuser mit schiefen Zäunen und eine orthodoxe Kirche mit großer Kuppel sind Motive, die Chagalls Bildwelt durch alle Schaffensperioden hindurch prägen. Es sind Szenen aus seiner Heimatstadt Witebsk im heutigen Belarus, die zu Symbolen für die Sehnsucht nach dem verlorenen Zuhause werden. Marc Chagall verlässt die Stadt erstmals 1911 und zieht mit einem Stipendium nach Paris. Als er drei Jahre später für einen Heimatbesuch zurückkehrt, ahnt er noch nicht, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs das (Aus)reisen für acht lange Jahre unmöglich machen wird. Mit 33 Jahren bricht er nach einem nunmehr achtjährigen Aufenthalt in Russland erneut nach Paris auf – und kehrt nie wieder nach Witebsk zurück. Seine Erinnerungen fließen in zahlreiche Gemälde ein, mit denen er sich seine eigene Heimat schafft – sei es in Berlin, Paris oder New York.

2. Ein halber Hering nackt in Paris

Chagall zieht im Alter von 24 Jahren erstmals in die Kunstmetropole Paris. Sein Leben finanziert er zunächst mehr schlecht als recht mit 40 Rubel pro Monat, die ihm ein Bewunderer und Gönner aus der russischen Duma bereitstellt. Entsprechend schwer sind die ersten Jahre, in denen er unglaublich sparsam haushaltet. Die Legenden besagen, dass er sich oft nur von einem halben Hering am Tag ernährte und nackt malte, um seine Kleidung nicht zu ruinieren.

Marc Chagall, Bonjour Paris, 1939–1942, Öl, Pastell, Gouache und Tusche auf Karton, 62 x 46 cm, Privatsammlung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Archives Marc et Ida Chagall
3. Chagall, Picasso und ein Dinner mit Folgen

Von Höhen und Tiefen geprägt ist seine Freundschaft mit Pablo Picasso. Die ähnlichen Lebenserfahrungen und Erfolge machen sie zu perfekten Gefährten und sind gleichzeitig der Auslöser für ihre spätere Fehde. Die beiden Ausnahmekünstler waren 20 Jahre befreundet, bis ein folgenschweres Dinner diese Freundschaft abrupt beendet. Auslöser ist ein Schlagabtausch, der sich so vollzogen haben soll:
„Wann gehst du zurück nach Russland?" fragt Picasso Chagall. „ Nach dir", sagt Chagall mit einem Lächeln. „Ich habe gehört, dass du dort sehr beliebt bist [da Picasso Kommunist war], aber nicht deine Arbeit (…)“. Darauf antwortet Picasso: „Ich denke, bei dir ist es eine Frage des Geschäfts. Du gehst nicht, wenn kein Geld drin ist."
Diese Spitze beleidigt Chagall so sehr, dass er nie wieder mit Picasso sprechen wird. 

Wenn Matisse stirbt, gibt es mit Chagall nur noch einen einzi­gen Maler, der wirk­lich versteht, was Farbe ist.

Pablo Picasso

Pablo Picasso und Marc Chagall, 1970,  Foto © Black River Auction, Image via barnebys.de

Überliefert sind aber auch lobende Worte übereinander, denn Picasso adelte den Freund und dessen Arbeit mit folgender Aussage: „Wenn Matisse stirbt, gibt es mit Chagall nur noch einen einzigen Maler, der wirklich versteht, was Farbe ist. Ich bin nicht verrückt nach seinen Hähnen und Eseln und fliegenden Geigern und all der Folklore, aber seine Leinwände sind wirklich gemalt und nicht nur zusammengewürfelt."

4. „Die größte Quelle der Poesie aller Zeiten“: die Bibel

Denkt man an Chagall, kommen einem unweigerlich auch seine beeindruckenden Bibel-Illustrationen in den Kopf. Fast drei Jahrzehnte arbeitet Chagall an diesem Projekt, das durch den Tod des Auftraggebers, den Zweiten Weltkrieg, Unsicherheit und Flucht viele Jahre zum Stillstand kommt und erst 1956 fertiggestellt wird. Für Chagall ist die Bibel die „größte Quelle der Poesie“, aus der er Inspiration für viele seiner Arbeiten schöpft. Dies ist besonders bemerkenswert, da er in einer ultraorthodoxen chassidischen Familie aufwächst, in der die visuelle Darstellung von Gottes Schöpfung verboten ist. Als Chagall später damit beginnt, Figuren zu malen, soll sich ein sehr frommer Onkel sogar geweigert haben, ihm die Hand zu geben.

Marc Chagall, Die Schöpfung, Lithografie aus Bibel II, 1960, Image via galerie-tobien.de

5. Bella, immer wieder Bella

Mit seiner Frau Bella verbindet Marc Chagall eine außergewöhnliche Lebens- und Geistesgemeinschaft – doch vor allem teilen sie die gemeinsamen Erinnerungen an ihre Heimatstadt Witebsk. Fast 30 Jahre sind die beiden miteinander verheiratet, bis Bella 1944 plötzlich verstirbt. Seine tiefe Trauer drückt Chagall in seiner Kunst aus: Das Werk „Um sie herum“ verewigt ihre Liebe. Ein Akrobat schwebt von oben herab und hält eine Art magische Kugel in seinen Händen, in der die verschachtelten Häuser ihrer Heimatstadt zu sehen sind. In zarten Pinselstrichen portraitiert Chagall in der rechten Bildhälfte seine Frau, die sich der Darstellung ihrer verlorenen Heimat melancholisch zuwendet. Der Künstler selbst sitzt mit verdrehtem Kopf an der Staffelei. Bella ist zeit seines Lebens die Protagonistin in vielen seiner Gemälde. Dies reißt auch mit ihrem Tod nicht ab.

 

6. Aus einem Werk werden zwei  

Als Chagall im Frühjahr nach Bellas Tod in sein Atelier zurückkehrt, zieht ihn eine große Leinwand, an der er ursprünglich 1933 gearbeitet hatte, besonders in den Bann. Kurzentschlossen zerschneidet er das Gemälde „Die Zirkusleute“ in zwei Hälften, die er anschließend übermalt. Aus ihnen entstehen „Um sie herum“ und „Die Lichter der Hochzeit“. Von der ursprünglichen Komposition übrig geblieben ist ein geflügeltes Wesen mit Ziegenkopf, das sein Glas auf das Brautpaar erhebt.

Marc Chagall, Um sie herum, 1945, Öl auf Leinwand, 131 x 109,5 cm, Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne / Centre de création industrielle, Schenkung des Künstlers, 1953, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: bpk / CNAC-MNAM / Philippe Migeat
Marc Chagall, Die Lichter der Hochzeit, 1945, Öl auf Leinwand, 123 x 120 cm, Kunsthaus Zürich, © Kunsthaus Zürich, Geschenk Nachlass Ernst Göhner, 1973 / VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: 2020, ProLitteris, Zurich
7. Von schwebenden Fiedlern, Geigen und musikalischen Bildern

Musik ist für Chagall eine ständige Inspirationsquelle. Musikalische Bilder verbinden den Künstler mit seiner Vergangenheit, seinen Wurzeln, künstlerischen Erfahrungen und bilden die Grundlage für sein Verständnis von Religion, Geschichte und Kultur. Besonders fasziniert ihn die Figur des Fiedlers. Der Geiger ist für Chagall eine Erinnerung an seine Kindheit, denn wenn im Dorf gefeiert wurde, dann waren Musikanten immer dabei. Gleichzeitig ist die Geige ein wichtiges Instrument in der jüdischen Kultur Osteuropas – und für Jüdinnen und Juden, die ihre Heimat verlassen mussten, eine trostspendende Erinnerung. In Chagalls Werken nimmt die Musik eine zeremonielle und rituelle Bedeutung an: sie begleitet wichtige Ereignisse im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft und regt zur spirituellen Suche an.

Detail: Marc Chagall, Deckengemälde in der Opéra Garnier in Paris, 1964, Image via commons.wikimedia.org

Marc Chagall, Deckengemälde in der Opéra Garnier in Paris, 1964, Foto: David Stanley, Image via commons.wikimedia.org

8. Chagall goes Opera – in Paris, New York und Frankfurt

Die Liebe zur Musik zeigt sich auch in Chagalls monumentalsten Arbeiten, den Decken- und Wandmalereien für die Opernhäuser in Paris und New York. Im September 1964 wird das rund 200 qm große Deckengemälde der Opéra Garnier in der französischen Hauptstadt enthüllt, das den größten Komponisten und deren Werken gewidmet ist. Kurz darauf beauftragt der Direktor der Metropolitan Opera in New York Chagall mit den zwei Wandmalereien „The Sources of Music“ und „The Triumphs of Music“ sowie Bühnenbildern und Kostümen für die Inszenierung „Die Zauberflöte“ von Mozart, für den Chagall stets eine große Vorliebe hegt.

Fun Fact: Auch Frankfurt kann sich glücklich schätzen, ziert doch das riesige, 2,55m x 4,00m große Gemälde „Commedia dell'Arte“ seit 1963 den Chagallsaal in der Theaterdoppelanlage aus Schauspiel und Oper am Willy-Brandt-Platz.

Marc Chagall, Krieg, 1943, Öl auf Leinwand, 106 x 76 cm, Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne / Centre de création industrielle, Seit 1995 im Depot des Musée d’art moderne de Céret (Céret), Schenkung des Künstlers, 1953, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: bpk / CNAC-MNAM / Jacqueline Hyde
9. „Ich habe dreißig Jahre gebraucht, um schlechtes Französisch zu lernen, warum sollte ich versuchen, Englisch zu lernen?"

Im Jahr 1941 siedelt die Familie Chagall in die USA über, um der Verfolgung durch die Nazis zu entkommen. Chagall lebt sechs Jahre in der umtriebigen Metropole New York, doch richtig warm wird er mit ihr nie. Weder erlernt er die englische Sprache, noch hält er die Stadt explizit in seinen Werken fest – anders als in Witebsk oder in Frankreich, wo einige Arbeiten durch typische Landschafts- oder Stadtansichten eine Annäherung an das Land belegen. Chagall nimmt zwar mehrere große Aufträge in den Vereinigten Staaten an, doch er bewegt sich vor allem in Emigrant*innenkreisen unter Exilkünstler*innen sowie jiddischsprachigen Intellektuellen.

10. Das MoMA, Alfred H. Barr Jr. und große Erfolge

Fünf Jahre nach dem Umzug in die USA zeigt das Museum of Modern Art 1946 eine große Einzelausstellung mit Chagalls Werken. Es ist der Direktor des MoMAs, Alfred H. Barr Jr., der persönlich dafür sorgt, dass Chagalls Name auf die Liste der europäischen Künstler*innen gesetzt wird, die in den USA Asyl vor der Verfolgung durch die Nazis benötigen. Die Schau im MoMA ist jedoch keineswegs der erste große Erfolg: Bereits drei Jahrzehnte zuvor präsentiert die Galerie Sturm in Berlin etwa 200 Werke, die vom Publikum unglaublich gut aufgenommen werden. Heute zählt Chagall zu den wenigen Künstlern, die zu Lebzeiten im Louvre ausgestellt haben. Dass er seinen künstlerischen Weg damit begann, die Werke der Alten Meister in ebenjenem Museum zu kopieren, schließt den Kreis im Lebenswerk des 97 Jahre alt gewordenen Künstlers.

CHAGALL. WELT IN AUFRUHR

4. November 2022 – 19. Februar 2023

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