Anlässlich von Chanukka hat Gal Kadan exklusiv für das SCHIRN MAG eine Playlist zusammengestellt. Sie beleuchtet eine kurze Periode israelischer Popmusik, in der griechische Musik so populär wurde, dass sie die lokale Musikszene dominierte und zu einem Instrument der Befreiung wurde.

Im 2. Jahrhundert v. Chr. Stand das Volk Israels unter der Herrschaft des griechischen Seleukidenreiches. Der griechisch-seleukidische Staat versuchte, seine Kontrolle über den alten Osten nicht nur durch militärische Stärke, sondern auch durch kulturelle Assimilierung zu festigen. Von der jüdischen Gesellschaft Israels wurde erwartet, dass sie sich „gräzisiert" - dass sie bereitwillig die griechische Kultur, Religion, Namen und Sprache anstelle ihrer jüdischen annehmen. Da sie sich jedoch weigerten, ihre jüdische Identität aufzugeben, rebellierten die Israelis gegen das Reich. Im Jahr 160 v. Chr. gelang es ihnen, die seleukidische Regierung zu stürzen und das souveräne israelische „Haschmoniten"-Königreich zu gründen. Bis heute feiern Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt jedes Jahr am 25. Tag des jüdischen Monats Tewet (etwa im Dezember) diesen Sieg mit dem Fest Chanukka.

Der „Greek Craze" der 1970er-Jahre

Etwa 2000 Jahre später, in den 1970er-Jahren, ist Israel wieder auf dem Vormarsch, und die „Gräzisierung“ erlebt ein Revival. Diesmal allerdings nicht mit Schwertern und Schilden, sondern mit E-Gitarren und Pop-Hits. Die Playlist erzählt die Geschichte einer kurzen Periode in der israelischen Popmusik, die manchmal als „Greek Craze" bezeichnet wird – ein Jahrzehnt, in dem griechische Musik in Israel so populär wurde, dass sie komplett vor Ort produziert, aufgeführt und aufgenommen wurde. Viele der Interpret*innen auf der Playlist sind eingewanderte Griech*innen, die nach Israel kamen, um aus dem „Greek Craze" Kapital zu schlagen, andere lassen sich wiederum als rebellische Hochstapler*innen und unechte Griech*innen beschreiben: Israelische Juden und Jüdinnen, die Tausende von Jahren nach Beginn des Haschmoniten-Königreichs bereitwillig falsche griechische Identitäten annahmen und in einer ihnen fremden Sprache sangen. Doch wer sind sie und was waren ihre Beweggründe?

Um eine mögliche Antwort zu geben, müssen wir einen tieferen Blick auf die israelische Gesellschaft in den 70er-Jahren werfen. Seit seiner Gründung im Jahr 1948 hat der Staat Israel riesige Einwanderungswellen von jüdischen Personen aus aller Welt erlebt. Viele von ihnen waren europäische Juden und Jüdinnen, Vertreter*innen des sogenannten „aschkenasischen" Judentums. Viele weitere kamen aus Ländern der muslimischen und arabischen Welt wie Syrien, Ägypten, Irak, Iran, Marokko, Algerien, Türkei und Jemen. Im Gegensatz zu den europäischen aschkenasischen Glaubensangehörigen, die die arabische Kultur als fremd und seltsam ablehnten, war die arabische Kultur für die so genannten „Mizrachi"-Juden und -Jüdinnen ein wesentlicher Teil ihres Erbes. Unter anderem aus diesem Grund wurden viele mizrachische Glaubensangehörige im damals aschkenasischen Israel sowohl systematisch als auch beiläufig diskriminiert.

Eine der offensichtlichsten Formen der Diskriminierung war die kulturelle. In den 70er-Jahren und bis in die frühen 90er-Jahre hinein war das israelische Radio und Fernsehen ausschließlich unter der Kontrolle des Staates und förderte vor allem die westliche Kultur. Es war praktisch unmöglich, Sendezeit mit arabischen Melodien oder arabischem Akzent zu bekommen. Doch so sehr sich Israel auch bemühte, ein europäisches Land zu sein, so sehr war es doch im Nahen Osten verwurzelt – die Israelis entwickelten eine Vorliebe für lokal klingende Popmusik. In diesem Konflikt kam die griechische Musik als eine Art Kompromiss ins Spiel. Sie war nicht arabisch, klang aber dennoch orientalisch und avancierte so zu einer musikalischen Plattform, die eine Brücke zwischen Ost und West schlug und Einflüsse von den Beach Boys bis hin zu Um Kulthum aufnehmen konnte. Der erste, der diese Vorteile nutzte, war Aris San – ein Grieche, der nach Israel einwanderte und durch die Clubszene von Jaffa zum Pop-Superstar im Israel der 60er Jahre wurde.

Als Aris San, der übrigens nichtjüdischer Herkunft war, Israel 1970 den Rücken kehrte, hinterließ er eine große Nachfrage nach griechischer Musik, die es zu befriedigen galt. Dies war eine Chance für mizrachische Sänger*innen, die sich mit westlichem Pop nicht durchsetzen konnten. Da sie sich einerseits von ihrer mizrachischen Identität distanzieren mussten, um kommerziell erfolgreich zu sein, andererseits aber in der griechischen Musik Platz für orientalische Klänge fanden, nahmen sie falsche Identitäten an und spielten Musik auf Griechisch unter erfundenen Namen wie Stalos, Stavros, Levitros und Nikolas auf. Und so gräzisierten sie sich selbst.

Für ahnungs­lose Zuhö­rer*innen waren sie von ihren grie­chi­schen Kolleg*innen nicht zu unter­schei­den. Viele von ihnen hiel­ten so sehr an ihren falschen Iden­ti­tä­ten fest, dass es bis heute schwie­rig ist, ihre wahren Namen und ihre Herkunft heraus­zu­fin­den. Einige von ihnen, wie z. B. Stalos (rich­ti­ger Name Shimon Mizrahi), treten in Israel immer noch unter diesen Namen mit grie­chi­scher Musik auf. Als Niko­las, ein bekann­ter Sänger aus dieser Zeit, verstarb, wurde in einem klei­nen Zeitungs­ar­ti­kel sein Tod erwähnt, sein Vorname – Amnon Kimga­rov – nicht.

Gräzisierung – Von der Unterdrückung zur Befreiung

Der Kompromiss, den diese mizrachischen Juden und Jüdinnen in Bezug auf ihre öffentliche Identität eingehen mussten, war mit einem überraschenden Privileg verbunden – er befreite sie von jeglichen Verpflichtungen gegenüber den griechischen Musiktraditionen, die sie ohnehin nicht besaßen. Das erlaubte ihnen, zu experimentieren und verschiedene Genres, Instrumente und Kulturen miteinander zu verbinden. Einige sangen sogar auf ein und derselben Platte sowohl auf Griechisch als auch auf Türkisch. In gewisser Weise gewannen sie die Freiheit, einen neuen multikulturellen Sound zu erfinden, einen einzigartigen israelischen Sound, der später den israelischen Pop für Jahrzehnte prägen sollte. Besonders auffällig bei diesen Aufnahmen ist der unorthodoxe Ansatz, die elektrische Gitarre wie eine Bouzouki zu spielen. Aris San war der Pionier dieses Ansatzes –  ein Paradebeispiel dafür ist das erste Stück in der Playlist. Ein weiteres bekanntes nicht-traditionelles Instrument, das zu dieser Zeit verwendet wurde, ist der Synthesizer mit seinem wilden psychedelischen Sound der 70er-Jahre. Besonders dominant ist er bei Titeln wie Nino Nikolaidis' „Koutalianos" und Grazias „Rampi Rampi", die beide von Marko Bachar gespielt werden. Auch die in den 70er-Jahren angesagten Pop-Genres wie Disco und Rock finden ihren Weg in diese Aufnahmen, wie z. B. Stavros' „Reikan" und Stalos' „Pigge Pigge" zeigen.

 

Nach den entschei­den­den Parla­ments­wah­len von 1977 wurden die mizra­chi­sche Iden­ti­tät und Kultur allmäh­lich vom israe­li­schen Staat akzep­tiert. Bewaff­net mit einer neuen Möglich­keit, Musik billig zu verbrei­ten – der Kassette –, schäm­ten sich Anfang der 80er-Jahre mizra­chi­sche Pioniere wie Zohar Argov und Marga­lit Tzan'ani nicht, unter ihrem rich­ti­gen Namen aufzu­tre­ten und auf Hebrä­isch mit mizra­chi­schem Akzent zu singen, während sie gleich­zei­tig große kommer­zi­elle Erfolge erziel­ten. Dies trug wiederum dazu bei, dass in den folgen­den Jahr­zehn­ten immer weni­ger Aufnah­men von loka­ler grie­chi­scher Musik gemacht wurden.

Nichtsdestotrotz wurde die Arbeit der Künstler*innen des „Greek Craze" von der mizrachischen Pop-Generation der 80er-Jahre weitergeführt. Die Playlist endet mit Zohar Argovs Hit „Elinor", einer hebräischen Version eines Songs der griechischen Pop-Ikone Stelios Kazantzidis, dessen musikalische Untermalung ursprünglich für ein Nikolas-Album aufgenommen wurde. Bis heute ist grie­chi­sche Musik in Israel beliebt, und es werden immer noch hebräi­sche Versio­nen grie­chi­scher Pophits aufge­nom­men und veröf­fent­licht. In den 90er-Jahren wurde der Mizrahi-Pop-Sound zur domi­nie­ren­den Form der Popmu­sik in Israel und führt bis heute die Radio­charts an. Einst ein verach­tens­wer­tes Zeichen der Unter­drü­ckung, wurde die Gräzi­sie­rung unter den Händen eini­ger musi­ka­li­scher Rebell*innen zu einem befrei­en­den Instru­ment, das die Entste­hung eines einzig­ar­ti­gen israe­li­schen Popsounds ermög­lichte und dem Land erlaubte, seine multi­kul­tu­relle Natur als Einwan­de­rungs­ge­sell­schaft – zumindest in seiner Musik – zu akzep­tie­ren.

CHAGALL. WELT IN AUFRUHR

4. Novem­ber 2022 – 19. Februar 2023

Mehr Infos zur Ausstellung