Kara Walker öffnet in der SCHIRN ihr privates Archiv und ermöglicht einen umfassenden und exklusiven Einblick in ihren künstlerischen Kosmos.
Kara Walker zählt zu den profiliertesten US-amerikanischen Künstler*innen der Gegenwart. Weltweite Bekanntheit erlangte sie mit ihren wandfüllenden Scherenschnitten und raumgreifenden Skulpturen, die provokativ und eindrücklich Rassismus, Sexismus und andere Formen der Unterdrückung und Gewalt behandeln. Für die Ausstellung „A Black Hole is Everything a Star Longs to Be“ öffnet die Künstlerin erstmals ihr umfassendes zeichnerisches Archiv und zeigt in der Schirn rund 650 Arbeiten der letzten 28 Jahre sowie eine Auswahl ihrer Filme.
Ihr Archiv umfasst Zeichnungen im weitesten Sinne: Aquarelle, Skizzen, Studien, Collagen, Scherenschnitte, Schriftblätter, tagebuchartige Notizen, ebenso Gefundenes wie Werbematerial und Zeitungsausschnitte. Arbeiten auf Papier sind zentral für Walkers künstlerische Praxis. Virtuos bedient sich die Künstlerin verschiedenster Stile, Referenzen und Techniken – von Kohle über Tusche bis hin zu Pastell- und Kreidezeichnungen. Ihre intimen Skizzen und Notizen sind Austragungsort grafischer Denkprozesse und zugleich Mittel der Satire und Karikatur, der Imagination und Subversion.
Walker macht bis heute anhaltende Konflikte und Traumata sichtbar
Unerbittlich rüttelt Walker an Geschichtsbildern und befragt in radikaler Offenheit und drastischer Bildsprache rassistische Machtstrukturen, Stereotype und Geschlechterrollen. Sie bezieht sich dabei immer wieder auf historische wie aktuelle Ereignisse und Themen – vom transatlantischen Menschenhandel bis zur Präsidentschaft von Barack Obama. Die Künstlerin macht bis heute anhaltende Konflikte und Traumata sichtbar und verhandelt schonungslos die Entstehung der kollektiven US-amerikanischen sowie der eigenen Identität.
Kara Walkers umfassendes grafisches Œuvre ist bisher nahezu unbeachtet geblieben. Die meisten Zeichnungen wurden zunächst nicht explizit für die Öffentlichkeit geschaffen und erlauben einen persönlichen Einblick in den Schaffensprozess der Künstlerin. Viele haben den Charakter einer Skizze oder einer Studie und sind mit schnellen Strichen, ohne detailliert ausgearbeitete Hintergründe gefertigt. Auch in den malerisch erscheinenden Arbeiten bleibt die zeichnerische Linie wesentliches Element. Zahlreiche Blätter sind in Serien entstanden und tragen keine individuellen Titel. Die Präsentation der Arbeiten unterschiedlichen Formats hält keine Chronologie ein. Kara Walker mischt Serien aus verschiedenen Zeiten neu, sodass an den Wänden der Ausstellung neue Verbindungen entstehen.
In den 1990er-Jahren wurde Kara Walker mit ihren charakteristischen Scherenschnitten in panoramaartigen Rundbildern und Rauminstallationen bekannt. Die Wahl dieser Technik ist ihre bewusste Entscheidung gegen den etablierten Kunst-Kanon. Im Genre der Malerei, das von der Dominanz weißer Männer und einer weiß perspektivierten Geschichtsschreibung geprägt ist, sah Walker als Schwarze Künstlerin nach ihrem Studium keine Ausdrucksmöglichkeit und wandte sich neben der Silhouette dem Zeichnen zu, das ihre künstlerische Arbeit seither konstant begleitete. Während sich viele Künstler*innen in der Zeichnung frei entfalten, spielt Walker hier aber auch bewusst mit den Traditionen, Stilen und Techniken der westeuropäischen Kunstgeschichte, adaptiert sie, lädt sie mit neuen Inhalten auf. Wie bei den Scherenschnitten täuscht die Künstlerin zunächst mit der filigranen Form und schockiert dann durch die dargestellten Inhalte.
Neben rund 600 Arbeiten aus Walkers privatem Archiv präsentiert die Schirn neuere Arbeiten wie die Serie der vier großformatigen Porträts, die Kara Walker Barack Obama und seiner Rolle als erstem Schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten widmete und die 2019 als Reaktion auf das offizielle Porträt des Künstlers Kehinde Wiley entstand. In der Technik von Kohle- und Pastellkreidezeichnung detailliert ausgearbeitet, stellt Kara Walker Obama in verschiedenen Rollen der religiösen und literarischen Kulturgeschichte Europas dar.
Kara Walkers Themen bilden keine konkreten Punkte in der Geschichte ab
Kara Walkers Themen wurzeln tief in der US-amerikanischen Vergangenheit, bilden jedoch keine konkreten Punkte in der Geschichte ab. In ihren Werken verdichten und überlagern sich vielmehr verschiedene Aspekte und Zeitebenen. In einer 38-teiligen Serie bringt sie etwa die Gründerväter der Vereinigten Staaten, die Ausbeutung Schwarzer Leichen für medizinische Zwecke und aktuelle Gewaltausbrüche gegen Schwarze Menschen zusammen und zeigt, dass die historische Dehumanisierung Schwarzer Menschen rassistische Praktiken gefördert hat, die bis heute tödliche Konsequenzen haben. In anderen Arbeiten übermalt Walker vergilbte Zeitungsartikel oder Seiten, die aus alten Geschichtsbüchern zu stammen scheinen, und fügt Figuren und Erzählungen ein, die die Narrative einer weiß perspektivierten Geschichtsschreibung aufbrechen und hinterfragen.
Ein weiterer zentraler Bestandteil des Arbeitsprozesses von Kara Walker ist das Schreiben. Ein großer Teil des Archivs besteht aus Text. Neben gesammelten Zitaten halten Schrift, Sprache und Literatur auf verschiedene Weise Einzug in ihr Werk. Der Ausstellungstitel etwa stammt aus einem ihrer comicartigen, langen „Wandbilder“ von 2012, welche provokante Slogans und poetische Zeilen mit Zeichnungen verbinden. Der Satz lautet komplett „The Sweet, Sweet Smell of Success, and the Stench of Ingratitude … A Black Hole is Everything a Star Longs to Be“ und flankiert die Zeichnung einer nackten Schwarzen Frau, die vor einem weißen Mann kniet, ihm auf die Schuhe erbricht und so der unterwürfigen Haltung eine widerständische Absage entgegensetzt.
Ein großer Teil des Archivs besteht aus Text
Auf sprachlicher und zeichnerischer Ebene bedient sich Walker in der Auseinandersetzung mit Themen wie rassistischer und sexualisierter Gewalt der Stereotype, die sich über Jahrhunderte im kulturellen und visuellen Gedächtnis der USA eingeprägt haben und heute weltweit bekannt sind. Einige Arbeiten aus Kara Walkers Archiv verweisen ebenso auf Beispiele von Sexismus und Rassismus in Deutschland. Dabei geht es Walker nicht um eine reine Reproduktion, sondern um eine schonungslose Konfrontation und groteske Überzeichnung, die entsprechende Zuschreibungen entlarvt.
Zugleich ist die Rückaneignung (Reclaiming) eine Reaktion auf kulturelle Aneignung (Appropriation) und eine Strategie der Selbstermächtigung durch einen Teil der Schwarzen Bevölkerung in den USA. Als Künstlerin lässt Kara Walker Klischees für sich arbeiten und vermischt Realität, Fiktion und Fantasie. Gleichzeitig lässt sie in der Aneignung von Stilen und Zitaten der westeuropäischen Kunstgeschichte die Grenzen zwischen dem, was tatsächlich geschehen ist, und dem, was hätte geschehen können, verschwimmen. Ihre Arbeit richtet so einen kritischen Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Als Künstlerin lässt Kara Walker Klischees für sich arbeiten
Neben dem zeichnerischen Werk zeigt die Schirn drei Videos der Künstlerin. In den filmischen Arbeiten verbinden sich Aspekte aus Kara Walkers künstlerischem Schaffen, die auch charakteristisch für ihre Zeichnungen und Scherenschnitte sind und die hier eindrücklich ihr erzählerisches Potenzial entfalten. Die Technik der Silhouette entwickelt Walker in ihren Videoarbeiten weiter zu bewegten Figuren, die von der Künstlerin als Erzählerin mit der Hand geführt werden. In den gezeigten Videos verwebt sie historische Ereignisse mit fiktiven Elementen, reflektiert stereotype Narrative und inszeniert in der vermeintlich beschaulichen Form eines Schattentheaters albtraumartige Erzählungen von rassistischer Gewalt und Ausbeutung.
KARA WALKER. A BLACK HOLE IS EVERYTHING A STAR LONGS TO BE
15. Oktober 2021 – 16. Januar 2022