Bevor sie Jackson Pollock begegnete, lebte Lee Krasner mit ihrem Partner Igor Pantuhoff im etwas raueren Teil von Chelsea. Auf ihrem Rooftop spürt man noch heute eine starke Verbindung zur Künstlerin.

Es ist ein überraschend kalter und grauer Morgen im Mai, überall sieht man noch Jacken und Schals, als ich die 14th Street entlanggehe. Ich will das Gebäude finden, in dem Lee Krasner Mitte der 1930er-Jahre mit ihrem damaligen Lebensgefährten Igor Pantuhoff wohnte und auf dessen Dach 1934 ihr Gemälde „Fourteenth Street“ entstand.

Krasner und Pantuhoff hatten sich 1929 an der Academy of Design kennengelernt. Er war der junge russische Sunnyboy, der sich für die Avantgarde interessierte, und sie eine faszinierende, selbstbewusste Frau, die versuchte, sich von ihrer strengen jüdischen Erziehung zu lösen und ihren Weg in der New Yorker Kunstszene zu finden. Ihre Beziehung begann leidenschaftlich und intensiv, 1930 zogen sie zusammen und bildeten über ein Jahrzehnt lang ein Paar. Dass sie nie geheiratet haben, liegt wohl daran, dass Pantuhoffs Familie Krasner wegen ihrer jüdischen Herkunft ablehnte. Wie bei den meisten Künstlern in den 1930er-Jahren war auch bei ihnen das Geld knapp, und so zogen sie in die 213 West 14th Street, weil dort die Miete relativ günstig war.

Foto: Natalie Wichmann

Auch heute noch verströmt dieser Teil von Chelsea eher einen rauen Charme, mit E-Zigarettenläden, heruntergekommenen Kneipen und Cafés – die Baulücke gegenüber wird auf vier Stockwerken gesäumt von großflächigen Wandbildern, sogenannten Murals, auf denen die berühmten Street-Art-Zwillinge Osgemeos rivalisierende Breakdance-Gruppen dargestellt haben. Als ich dann bei dem Gebäude ankomme, sehe ich im Erdgeschoss einen Blumenladen. Vielleicht kann man mir dort helfen, aufs Dach zu kommen? Man rät mir, mit dem Vermieter zu sprechen, und ich habe Glück, er ist soeben gekommen, um Reparaturen an der Hausfassade vorzunehmen. Nachdem ich ihm mein Anliegen erklärt habe, erlaubt er mir, Bilder vom Dach zu machen, freut sich sogar aufrichtig, denn auch seine Mutter war Malerin und hat oben auf dem Dach immer wieder die gleiche Ansicht festgehalten.

„Fourteenth Street“ zeigt eine an Edward Hopper erinnernde Dachlandschaft  und fällt in Krasners frühe realistische Schaffensphase. Das Bild entstand noch vor ihrem Studium bei Hans Hofmann, bevor sie von der Moderne beeinflusst wurde und Picassos „Guernica“ sah. Während sie sich mehr und mehr den aktuellen Strömungen in der Kunst zuwandte, schwand Pantuhoffs Interesse an der Moderne, und er konzentrierte sich auf eine Karriere als Porträtmaler. Allmählich wandte sie sich von ihm ab und war trotzdem fassungslos, als er sich 1939 – nach zehn gemeinsamen Jahren – auf einmal nach Florida davonmachte, um dort mit seinen Eltern zu leben. So wurde aus Pantuhoff ein Porträtmaler und Gigolo für die einsamen Frauen des Südens, aus Krasner dagegen eine der fortschrittlichsten abstrakten Künstlerinnen ihrer Zeit.

Endlich oben auf dem Dach angelangt, spüre ich zum ersten Mal eine eigenartige Verbundenheit mit der Künstlerin. Vor über 80 Jahren stand sie hier oben, genau dort, wo ich nun stehe, mit Staffelei, Pinseln, Leinwand und Ölfarben anstelle von Stift, Papier und Handy. Die Aussicht war sicherlich eine etwas andere, aber auf „Fourteenth Street“ erkennt man doch ähnliche Elemente: Abgasrohre, Oberlichter in Form von Dachreitern, die Wassertanks auf nahen Gebäuden und das allgegenwärtige Ziegelrot, das so typisch ist für die älteren Gebäude in Lower Manhattan.