Hannah Ryggen bewunderte die mexikanischen Wandbilder nicht nur wegen ihrer gewaltigen Bildsprache. Die revolutionären Muralisten kreierten ebenso monumentale Werke mit politischer Sprengkraft.

Ob emanzipierte Frauenbilder, Machtmissbrauch oder die Gräuel des Krieges: Hannah Ryggen webte seit 1923 großformatige Wandteppiche mit politischer Sprengkraft. Ihr war es wichtig, die Aussagen ihrer monumentalen Formate der breiten Allgemeinheit zugänglich zu machen, statt sie an die Innenwände privater Haushalte zu verlieren. 

Auch die Maler der mexikanischen Moderne legten großen Wert darauf, ihre monumentalen Wandgemälde, die sie etwa zur gleichen Zeit wie Hannah Ryggen ihre Teppiche schufen, öffentlich sichtbar zu machen. Doch anders als die skandinavische Künstlerin, die sich in ihren Tapisserien zu internationalen Konflikten und aktuellen Fragen des Weltgeschehens positionierte, verfolgten Künstler wie Diego Rivera und seine Zeitgenossen einen fast ausschließlich auf die Innenpolitik Mexikos begrenzten Ansatz.

Mit dem Mani­fest wurde die Etablie­rung einer sozia­len Kunst­form gefordert

Im Jahr 1924 veröffentlichte der mexikanische Künstler David Alfaro Siqueiros in „el machete“, einer mexikanischen Tageszeitung, einen flammenden Aufruf, politisch Stellung für die indigene Bevölkerung des Landes zu beziehen und sich gegen den drohenden Militärputsch des Präsidenten Adolfo de la Huertas auszusprechen. Zudem forderte Siqueiros im sogenannten „Manifest der Arbeiter, Maler und Bildhauer“ die Etablierung einer sozialen Kunstform zugunsten der indigenen Bevölkerung sowie die Ästhetik der indigenen Kunst als Grundlage der modernen Kunst Mexikos zu verbreiten. Unter künstlerischen Gesichtspunkten ging mit dieser Forderung die Abwendung von der europäischen Moderne als allumfassendes Vorbild und die Zuwendung zur nationalen Geschichte Mexikos einher – also eine Art Rückbesinnung auf die „eigenen“ kulturellen Traditionen.

Sindicato de Artistas, Pintores y Grabadores Revolucionarios, Image via googleusercontent.com

David Alfaro Siqueiros, Auszug aus „el machete“, Image via metmuseum.org

Siqueiros‘ Forderung ist auf die während der Mexikanischen Revolution zusammengebrochene akademische Künstlerausbildung zurückzuführen, in der die mexikanische Kultur vernachlässigt und die Bewunderung für europäische Kunstformen als die einzig wahre weitergegeben wurde. Das Manifest fand Unterstützung durch prominente Künstler wie Diego Rivera, José Clemente Orozco und Xavier Guerrero.

Ziel des daraus entstandenen Syndikats aus Arbeitern, Malern und Bildhauern war die Beeinflussung des vorherrschenden Kunstgeschmacks durch das Medium der öffentlichen Kunst, um damit einen Beitrag zur Bildung und vor allem zum sozialen Klassenkampf zu leisten. In diesem Sinne und im Zeichen der Rückbesinnung auf die Begründer der mexikanischen Kultur adressierte das Manifest die seit Jahrhunderten erniedrigte indigene Bevölkerung des Landes, deren Identität zum Hauptmotiv der postrevolutionären Kunst Mexikos avancierte.

José Clemente Orozco, Gods of the Modern World, Credit Courtesy of the Hood Museum of Art, Dartmouth College, 2012 Artists Rights Society (ARS), New York/SOMAAP, Mexico City, Image via nyt.com

Diego Rivera, Mural am Palacio Nacional (Mexiko), 1929, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Image via WikiCommons

Umgesetzt wurde dieser neue Ansatz in Großformaten wie den so genannten Murales – Wandbildern, die auf Außen- und Innenwänden öffentlicher Gebäude in Mexiko entstanden. Viele dieser öffentlich zugänglichen Werke befassen sich mit historischen Ereignissen und den damals aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzungen Mexikos. Gleichzeitig spiegeln sie auch die sozialistischen Überzeugungen der Künstler. Finanziert wurden die Murales von der mexikanischen Regierung unter Bildungsminister José Vasconcelos, um eine bestimmte nationale Geschichte auch an die meist analphabetische ärmere Bevölkerungsschicht heranzutragen. Dass die mexikanische Regierung die Entstehung der Murales finanziell förderte, zeigt, dass ihr monumentales Format auch einen repräsentativen Zweck erfüllte.

Die Moti­ve zeigten eine vermeint­lich offi­zi­elle Version der Geschichte

Mit ihrem Bildprogramm, wie es 1935 Diego Rivera exemplarisch im Palacio Nacional malte, idealisierten und instrumentalisierten die Muralisten die indigene Bevölkerung. In ihren szenisch-narrativen Motiven bildeten sie eine vermeintlich offizielle Version der nationalen Geschichte und Gegenwart ab. Anhand der subjektiven Abbildung der Revolutionsgeschehnisse bezogen die Muralisten künstlerisch Stellung für den postrevolutionären mexikanischen Staat und konstruierten eine vermeintliche kulturelle Identität.

Diego Rivera, Civilización Totonaca, 1929, Palacio Nacional (México), © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Image via WikiCommons

Diego Rivera, En el arsenal, 1928, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Image via blogspot.com

Unter all diesen Bildbeispielen lassen sich soziale und politische Botschaften sowie die Verherrlichung von nationalen Werten vor allem in Zusammenhang mit den patriotischen Helden erkennen. Die mexikanischen Murales sind demnach eine Sichtbarmachung der von der Gemeinschaft geforderten nationalen Neuausrichtung der mexikanischen Kunst – ein gemaltes Manifest. Die Muralisten malten Manifeste, wie auch Hannah Ryggen sie webte, nur zielten diese, anders als Ryggens Werke, auf das nationale Interesse ihres Heimatlandes ab.

Diego Rivera, Dream of a Sunday Afternoon in Alameda Park (Detail), © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Image via WikiCommons
Hannah Ryggen, Fiske ved gjeldens hav (Fischen im Schuldenmeer), 1933 © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Øystein Thorvaldsen, Courtesy of Henie Onstad Kunstsenter