Kurator Matthias Ulrich über militärische Inszenierungen, Brexit und einen politischen Künstler.

Gestern Abend im Apfelweingarten bei der deutschen Nationalhymne nimmt der Typ vor mir – weil wir alle auf den Screen schauen, sehe ich überwiegend seinen Rücken – seine Baseballmütze ab und hält sie sich mit einer Hand vor die Brust, während er die Hymne mitsingt. Anhand der äußerlichen Codes – Vollbart, Sneakers usw. – und der neben ihm sitzenden Bekannten sicher nicht als strammer Rechter einzustufen, auch ein am Tisch stehendes zusammengeklapptes Brompton, das offenbar ihm gehört, erhärtet den spontanen Verdacht nicht. Als er die Mütze am Ende der Hymne wieder aufsetzt, lese ich den Schriftzug darauf: Deadpool, ein Marvel-Comic, das gerade actionreich verfilmt worden ist, ein satirebeladenes Anti-Heldenstück, mein Verdacht also vom Tisch? Jemand, der die Mütze abnimmt, weil eine Nationalhymne gespielt wird, das kenne ich sonst nur von militärischen Inszenierungen.

Aber eigentlich schreibe ich das nur, damit ich einen Anlass schaffe, in den wenigen Tagen, die den britischen Staatsbürgern/innen verbleiben, um Ihre Stimme für Europa abzugeben, einen Blick auf die Arbeit zu werfen, die der Künstler, Fotograf und die letzte verbleibende politisch relevante Stimme in der deutschen Kunstlandschaft, Wolfgang Tillmans, in Sachen Brexit vorgelegt hat – sowohl in seiner zum Aktionsbüro umfunktionierten Galerie in Berlin, die Tillmans in seiner langen Zeit in London dort überhaupt erst aufgebaut hat, um sie schließlich nach Deutschland mitzunehmen, als auch auf seiner Website: tillmans.co.uk/campaign-eu

Hier also nun die Stimme von Wolfgang Tillmans, die ebenfalls gestern erschienen ist: