Vera King, Direktorin des Frankfurter Sigmund Freud Instituts, über schonungslose Selbstoffenbarung, Träume und destruktive Momente im Werk des österreichischen Künstlers Richard Gerstl.

Dr. Vera King ist Professorin für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie. Seit Herbst 2016 leitet sie außerdem als Direktorin das berühmte Frankfurter Sigmund-Freud-Institut. Eine etwas andere Annäherung an den österreichischen Künstler Richard Gerstl – und ein Gespräch über schonungslose Selbstdarstellungen, Kunst als Bühne des Verdrängten und Gemeinsamkeiten zwischen Bild- und Psychoanalyse.

Frau Dr. King, Sie haben vor kurzem SCHIRN-Besucher durch die Richard Gerstl-Ausstellung geführt – wie kam es dazu?

Ich wurde eingeladen, über Gerstls Bilder aus einem sozialpsychologischen und kulturanalytischen Blickwinkel zu sprechen, mit Bezügen zur Psychoanalyse und zur Traumdeutung. Das schien mir aus mehreren Gründen plausibel: Zum einen ist es grundsätzlich interessant, Kunstwerke aus einer solchen Perspektive zu betrachten. Zum andern war Richard Gerstl einer der ersten Künstler, die sich das Buch „Die Traumdeutung“ von Sigmund Freud besorgt hatten. Und nicht zuletzt wurden auch im Umfeld von Gerstl, im Wiener Fin de Siècle, die Annahmen von Sigmund Freud über das Seelenleben, über Träume und Unbewusstes diskutiert.

Ihr Ansatz wäre also, sowohl die Person Richard Gerstl als auch dessen spezifisches Umfeld zu untersuchen?

Zunächst einmal gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass Wien um 1900 auf eine spezielle Weise geprägt war von gesellschaftlichen Umbrüchen und Spannungen. In vielen Bereichen dominierten Blockaden und das Festhalten am Alten. Dies führte in Teilen des Bürgertums zur Idealisierung der Kunst. Den damit verbundenen Rückzug in Ästhetisierendes und Dekoratives oder ornamentale Schönheit hat die Kuratorin Ingrid Pfeiffer beschrieben; ein berühmtes Beispiel dafür sind die Werke der Wiener Secession, etwa von Gustav Klimt. Auf der anderen Seite gab es Gegenbewegungen: sich dem Konflikthaften und Leidvollen zu stellen. Die Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der Welt, auch mit Verleugnetem war nicht nur Sujet der Psychoanalyse, sondern auch Thema der Kunst und Philosophie. Und von Gerstl. Während also in dekorativen Ästhetisierungen jener Zeit die hässlichen Seiten der Wirklichkeit oftmals verschleiert wurden, arbeitete sich Richard Gerstl an solchen Idealisierungen in der Kunst geradezu passioniert ab. Teils mit ironischen Anspielungen, teils in heftiger Abgrenzung. Man könnte sagen, Gerstl forderte auf künstlerischer Ebene seine Zeitgenossen heraus: durch eine intensivierte Auseinandersetzung mit dem Verdrängten, Nicht-Zugelassenen, teils in schrägem, für seine Zeit provokantem und eruptivem Stil.

Und was hat Sie darüber hinaus, persönlich und aus professioneller Perspektive, an Gerstls Kunst interessiert?

Im Werk Gerstls gibt es ja besondere Rätsel und offene Fragen. Er hat in sehr jungen Jahren Einiges geschaffen, das heute besonders eindrucksvoll erscheint. Die Anerkennung, dass Gerstl ein für seine Zeit sehr ungewöhnlicher Künstler war, in Teilen früh-expressionistisch, kam erst im Nachklang. Sein Stil wirkt sehr heterogen, teils suchend, sodass alleine diese Vielfalt gewisse Fragen aufwirft. Gleichzeitig war seine Lebensgeschichte dramatisch. Seine Aufzeichnungen hat er vor seinem Suizid vernichtet. So konnten die Umstände seiner Liebesgeschichte mit Arnold Schönbergs Frau und seines Selbstmordes in der Nachwelt noch einmal ganz eigene Fragen und Phantasien in Gang setzen. Im Besonderen sticht hervor, dass es Gerstl nicht darum ging, etwas möglichst harmonisch ‚Schönes‘ idealisiert darzustellen. Er schien sich vielmehr radikal dem stellen zu wollen, was er als eine Art Wahrheit erlebte. Dabei blieb er auch unten den avantgardistischen Außenseitern ein Außenseiter.

Richard Gerstl, Semi-Nude Self-Portrait, 1902/04, Oil on canvas, 159 x 109 cm, Photo © Leopold Museum, Wien

Wie kann man die Bildanalyse bei allen psychologischen und biografischen Fragestellungen davor bewahren, ins Anekdotische abzurutschen?

Es kommt darauf an, auf welche Weise bei Kunstbetrachtungen Biografisches ins Spiel gebracht wird. Welche Themen und Motive, welche unterschwelligen Spannungen sind in Gerstls Arbeit eingeflossen, und wie hat er sie gestaltet? Hier sind wir auf der individuellen Ebene. Überindividuell kann man fragen: Wie sind diese Motive wiederum eingebettet in gesellschaftliche Auseinandersetzungen? Und es geht in meinem Verständnis nicht darum, nachträglich Diagnosen zu stellen oder den künstlerischen Ausdruck auf das Private zu reduzieren. Vielleicht eher: Zu schauen, wie sich das individuelle, persönliche Ringen, das eingebettet ist in eine ganz bestimmte soziale und kulturelle Situation, in einer künstlerischen Form zum Ausdruck bringt. Das finde ich interessant.

Wenn man den Schwerpunkt nun auf eben diesen künstlerischen Ausdruck lenkt: Wie lassen sich Bild- und Psychoanalyse hier verknüpfen?

Nehmen wir den Halbakt als Beispiel. Richard Gerstl hat einige Zeit vor dem Malen dieses Bildes die Akademie für Bildenden Künste verlassen, weil er sich zu wenig wertgeschätzt fühlte. Und es entstand wohl unmittelbar nachdem Gerstls Bewerbung fürs Militär abgelehnt worden ist. Stellen wir uns vor, Gerstl hätte dieses Bild geträumt nach der erfahrenen Ablehnung, als eine Art Erscheinung seiner selbst im Traum: Präsentiert wird ein schmaler – für das Militär als ungeeignet bewerteter – mager stilisierter Körper. Aber er wird präsentiert mit einem Blick, der sagen könnte: wer seid Ihr, dass Ihr glaubt, mich beurteilen zu können? 

Einerseits lassen sich mit dem Bild – auch durch die Leere um den Körper, die eng am Körper angelegten Arme, das weiße Tuch – Krankheit, Leichentuch und Mumifizierung assoziieren. Andererseits fällt eben auch die helle Aura um den Kopf auf, die auf eine Wiederkehr des Messias nach seiner Kreuzigung anzuspielen scheint. Das Bild wäre dann einerseits Ausdruck seiner Kränkung: Vernichtet durch Ablehnung. Aber eben auch Wiederauferstehung und Triumph. Es wirkt auch wie ein noch nicht ganz vollzogener Schritt in die vollkommene Nacktheit. Es fehlte nur eine kleine Bewegung, die das Tuch zum Rutschen brächte, um den jungen Mann ganz zu entblößen. 

Das ‚Messianische‘ im Bild könnte psychodynamisch betrachtet eine adoleszente Spannung von Vernichtungsangst und Größenphantasie auf den Punkt bringen, auch extreme Einsamkeit und Isolation. Insgesamt tritt bei diesem Bild - durch den Inhalt aber auch durch die formale Gestaltung - die Spannung auf zwischen dem ungeschützten Sich-Preisgeben und dem herausfordernden provokanten Moment. Man könnte auch sagen: die künstlerische Gestaltung transformiert Schwäche in Stärke – ‚traum-haft‘. 

Womit wir wieder bei Sigmund Freuds Traumdeutung wären…

Dass Richard Gerstl sich Freuds Traumdeutung besorgt hat, wissen wir aus seinem Umfeld. Wie genau er sich damit auseinandergesetzt hat, lässt sich nicht sagen. Gleichwohl können wir über Bezüge zwischen Traum und künstlerischem Schaffen nachdenken: Dass es im Traum diese Bühne gibt, auf der Verdrängtes, Unliebsames in einer maskierten, verschleierten Form zum Ausdruck kommen kann. Und auch im Kunstwerk können Themen jenseits der Konventionen entfaltet werden: Innere Impulse drängen zur Darstellung und fließen so nicht nur in die Motive, sondern auch in deren Ausgestaltung ein. Bei Gerstl sieht man, wie er in vielen Selbstbildnissen versucht hat, sich schonungslos, geradezu analytisch darzustellen. Ich möchte das nicht überstrapazieren, aber ich musste daran denken, wie Freud betont hat, welche Überwindung es ihn kostete, sich für die „Traumdeutung“ selbst zu entblößen, seine eigenen Träume als Beispiel zu nehmen. „Als einziger Bösewicht unter all den Edlen, mit denen man das Leben teilt“, wie es Freud ironisierte. Zwischen dieser radikalen Selbstentblößung und Gerstls schonungsloser Selbstoffenbarung kann man Gemeinsamkeiten finden.

Richard Gerstl, The Schönberg Family, late July 1908, Oil on canvas, 88,8 x 109,7 cm, Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien

Eine solch radikale Selbstoffenbarung ist ja potentiell riskant. Gerade in Zeiten, in denen es hiermit noch keine Routinen, keine gefestigten Wege zum Umgang mit Verdrängtem gab. Die Ausstellungskritik in der WELT trug dazu passend den Titel: „Ich entfessel mich. Dann bring‘ ich mich um“.

Ein Künstler, der auf riskante Weise Konventionen überschritten hat, kann irgendwann an den Punkt gelangen, an dem er sich, auch aus der projizierten Perspektive der anderen, so un-möglich gemacht hat, dass ihm ein Weiterleben nicht mehr vorstellbar erscheint. Der Suizid wäre dann eine Art Selbstvollzug des ‚sozialen Todes‘, den er vorher schon gestorben ist. Zugleich stellt sich die Frage nach psychischen Voraussetzungen: nach den Dynamiken, die dazu führen, dass künstlerische Grenzüberschreitung auch auf der persönlichen Ebene irgendwann entgleitet. Gerstl hat sich in eine von vorneherein kaum lösbare Konstellation begeben, indem er seine Beziehung zu Schönberg durch die Beziehung zu dessen Frau in eine potentiell dramatische Spannung brachte. An deren Ende steht der Selbstmord.

Doch wäre Gerstl nicht Gerstl, würde nicht auch sein selbst herbeigeführter Tod wie eine künstlerische Inszenierung erscheinen. Vom allerletzten kreativ-destruktiven Akt gibt es naturgemäß kein Abbild, sondern nur noch Beschreibungen: Nackt vor dem Spiegel stehend, sich gleichzeitig erstechend und erhängend, also eine Art Selbst-Übertötung, bei der man sich fragen muss: Warum diese Doppelung? Wem gilt die Aggression? Man kann das Thema von drei Seiten betrachten: Der soziale Tod; die individuelle biografische Entwicklung, in der etwas in Gang gesetzt wird, das in die Katastrophe mündet – und das Dritte wäre die künstlerisch-adoleszente Ausgestaltung: eine Art omnipotent-destruktives Agieren des jungen Mannes, der gleichsam noch einmal ein letztes tödliches Bild von sich hervorgebracht hat. In dem er wiederum auch etwas von seinem Zorn zum Ausdruck bringen konnte, der sich schließlich aber gegen sich selbst richtet.

Apropos Adoleszenz: Sie beschäftigen sich in Lehre und Forschung ja unter anderem auch mit dieser so wichtigen Lebensphase. Könnten Sie vielleicht noch etwas zur Bedeutung des Abschnitts zwischen Jugend und Erwachsensein für das künstlerische Schaffen sagen – und wieso Sie auch Gerstl noch in dieses Alter einbeziehen?

Generell muss man sagen, dass die Jugendphase damals oft kürzer und auch anders gestaltet war, als wir sie heute kennen. Aber bei Gerstl als jungem Mann aus einer bürgerlichen Familie kann man durchaus von einer Art Adoleszenz sprechen. Auf der sozialen Ebene hat er ja während seines gesamten künstlerischen Schaffens noch von seinem Elternhaus profitiert, von den Freiräumen, die der relative Wohlstand mit sich brachte. Weder im ökonomischen noch im sozialen Sinne war er selbständig. Auch seine psychische Verfassung könnte man mit Blick auf seine „Alles oder nichts!“-Haltung als typisch adoleszent bezeichnen: „Entweder, ich werde anerkannt als der große, auserwählte Künstler, der ich bin, oder ich stelle nichts aus und verweigere mich!“ Oder auch: „Entweder, ich bekomme die Frau meines Freundes – oder ich sterbe!“ Wobei es im Leben natürlich auch auf den, wenngleich nicht immer eindeutigen, Unterschied ankommt zwischen adoleszentem Spiel mit Zuspitzung und faktischer Destruktion.

Schließlich gibt es vielfältige Relationen zwischen künstlerischer und adoleszenter Verfassung. Kreativität bedarf eines jugendlichen Überschwangs – es geht ja darum, Neues in die Welt zu bringen! Aber zugleich kann man festhalten, dass nicht jede Kreativität die Adoleszenz übersteht – weil viele Entwicklungen dann doch in eher konventionelle erwachsene Positionen münden. Umgekehrt übersteht aber auch nicht jeder Kreative die Adoleszenz – wenn destruktive Momente überwiegen, im Inneren oder Äußeren – wie bei Gerstl.

Richard Gerstl, Group Portrait with Schönberg, late July 1908, Oil on canvas, 169 x 110 cm, Kunsthaus Zug, Stiftung Sammlung Kamm, Photo: Kunsthaus Zug / Alfred Frommenwiler

Wenn man Gerstls Bilder und seine Biografie betrachtet, dann nehmen Männer einen großen Anteil in beiden ein – obwohl seine letztlich tragische Liebesbeziehung einer Frau galt.

Es gibt bei Gerstl diese extreme Ambivalenz gegenüber Männern und väterlichen Figuren. Sein Verhältnis zum jüdischen Vater scheint zwiespältig: Er war wohlhabend und hat damit faktisch das Leben des Sohns als Künstler ermöglicht, auch wenn er es offenbar wenig begrüßte. Gleichzeitig hatte die Mutter veranlasst, aufgrund der antisemitischen Diskriminierungen zur damaligen Zeit, die Kinder katholisch taufen zu lassen. Insofern erscheint Gerstls Vater als ökonomisch potent, aber auch als geschwächt. Gerstls Beziehungen zu ‚väterlichen‘ künstlerischen Vorbildern waren offenbar sehr polarisiert.

Schließlich ist da sein Verhältnis zu Arnold Schönberg, der wohl die zentrale Figur für ihn ist und bleibt. Einerseits scheinen sie sich ganz nah zu sein, teilen so viel in Bezug auf ihr Kunstverständnis, ihre Passion für Malerei und Musik. Gleichzeitig wurde Schönbergs Frau Gerstls Geliebte. Auch das ist eine extreme Nähe: Mit dem Freund die gleiche Frau zu ‚teilen‘, fast schon eine körperliche Intimität. Und zugleich ein totaler Bruch. Ich finde, gerade in dem Gruppenbildnis des Schönberg-Kreises und im Bild der Schönberg-Familie wird diese extreme Ambivalenz künstlerisch zugespitzt, bis an die Grenze des Unerträglichen. Man hat den Eindruck, als hätte er in diesen Bildern Schönbergs Theorie von Atonalität und Dissonanz in Malerei übersetzt, und gleichzeitig zeigt Gerstl eindrucksvoll auch die Dissonanz in Arnold Schönbergs eigenen Beziehungen – was fast schon in eine Art Spott mündet.

Wo wir gerade bei der Bildbetrachtung sind: Haben Sie persönliche Lieblingsbilder in der Ausstellung, oder auch außerhalb dessen, in Richard Gerstls Gesamtwerk?

Es fällt mir nicht leicht, mich zu entscheiden. Besonders beeindruckt haben mich tatsächlich diese beiden eben genannten Bilder, weil sich hier etwas verdichtet, was auch mit der Präsentation zusammen mit Schönbergs Musik in der Ausstellung zu tun hat: Hier empfindet man geradezu eine paradoxe Einheit von Musik und Bild. Der Künstler Gerstl gelangt hier an einen Punkt, der sich deutlich unterscheidet von seinen vorherigen Werken, hin zu einer malerischen Dissonanz.