Was wissen wir eigentlich über Tiere und was sagt das Verhältnis zu ihnen über unsere Kultur aus? Ein Gespräch mit Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Roland Borgards vom Netzwerk „Cultu­ral and Literary Animal Studies“.

Professor Borgards, Tiere sind inzwischen auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften angekommen. Im angelsächsischen Raum erforschen die „Animal Studies“ oft fachbereichsübergreifend unser Bild vom Tier. Sie selbst haben 2011 das Forschernetzwerk „Cultural & Literary Animal Studies“ gegründet. Warum möchten Sie die Beschäftigung mit Tieren nicht allein den Naturwissenschaften überlassen?

Wir stehen mit sehr, sehr vielen Tieren in Kontakt. Man könnte sogar sagen: Unsere Kultur ist konstitutiv auf diesen Kontakt mit Tieren angewiesen. Deshalb ist die Art und Weise, wie verschiedene Kulturen zu verschiedenen Zeiten mit Tieren umgehen, immer auch ein Zeichen für die Organisation, für die Machtverhältnisse innerhalb dieser Kultur. Wenn ich verstanden habe, welche Rolle die Tiere in einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit gespielt haben, dann habe ich diese Kultur verstanden. Das Nachdenken über die Tiere in einer Kultur ist also immer auch ein Nachdenken über diese Kultur und somit über den Menschen.

Sie beschreiben Tiere als Ordnungsgeber einer Gesellschaft. Was meinen Sie damit genau?

Es gibt einige Arten, an denen man die Ordnungsfunktion der Tiere ganz deutlich machen kann. Besonders wichtig sind hier die Hunde und die Affen: Die Hunde hat sich der Mensch gewissermaßen zu seinen Verbündeten gemacht. In der Geschichte der politischen Theorie sind Hunde immer wieder als Lebewesen imaginiert worden, mit deren Hilfe der Mensch das Terrain der „Kultur“ gegen das Terrain der „Wildnis“ verteidigen kann. Man holt sich also ein Tier aus der Wildnis heraus, um es der eigenen Kultur einzuverleiben. Genau an diesem Punkt setzt aktuell ein Wandel ein: Der Hund wird immer weniger als Abwehrtier verstanden, sondern vielmehr als Kontakt zur Natur, über den ich als Mensch mit dieser in Verbindung treten kann.

Das Nach­den­ken über die Tiere in einer Kultur ist also immer auch ein Nach­den­ken über diese Kultur und somit über den Menschen.

Prof. Dr. Roland Borgards
Roland Borgards

Das klingt erst einmal eher versöhnlich.

Nicht unbedingt. Denn in den Cultural and Literary Animal Studies geht es zunächst einmal darum, die Mechanismen dieser Herrschaft zu verstehen. Nehmen wir die Beispiele der Massentierhaltung, des Kükenschredderns: Ein solches Handeln ist nur möglich auf der Grundlage eines sehr lange eingeübten, kulturellen Differentialismus. Es beruht auf der Annahme einer anthropologischen Differenz, eines kategorialen Unterschiedes zwischen „dem Menschen“ und „dem Tier“. Ein solcher Unterschied ist aber nicht einfach gegeben, sondern wird politisch gemacht und kulturell eingeübt. Und das kann dann, ganz am Schluss, doch wieder versöhnlich sein: Weil hinter all diesen Erkenntnissen doch die Utopie eines besseren Zusammenlebens versteckt liegt. Es gibt so reichhaltige Beziehungen und Kontakte; interessante, trickreiche, raffinierte, inspirierende Vermischung von Menschen und Tieren, deren utopisches Potential man nur kenntlich machen muss.

Können Sie ein Beispiel geben?

Nehmen wir das Beispiel der Vogelfütterung im Winter, die ja auch eine alte, traditionsreiche Kulturtechnik in Europa darstellt. Neuer ist die Idee, dass man Vögel auch im Sommer durchfüttern soll. Die Kulturgeschichte ist voll von Texten, in denen die Freuden und auch Vorteile des Vogelfütterns dargestellt werden. Das stellt eine bestimmte Aufmerksamkeit für Vögel her, ist aber auch ein wechselseitiger Prozess: Wie bestimmte Menschen bestimmten Vögeln und umgekehrt bestimmte Vögel bestimmten Menschen näherkommen. Vielleicht hat man immer zwei Amselpaare gefüttert, und plötzlich kommt ein Tier nicht mehr wieder, worüber man traurig wird. Man individualisiert die Amsel, man hat das Gefühl, dieses individuelle Tier zu kennen. Diese Aufnahme des einzelnen Tieres in den eigenen „Bekanntschaftskreis“ wird zum Beispiel von Donna Haraway, einer wichtigen Theoretikerin in diesem Bereich, auch als hergestellte Verwandtschaft beschrieben. Wir suchen uns unsere Familie selbst, dazu können auch Tiere gehören. In der Soziologie spricht man von „mixed societies“.

Aber auch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einem ambivalenten Verhältnis zu tun haben: Es gibt das eine Tier, um das kümmere ich mich, und die Art an sich ist mir trotzdem erst einmal egal.

Absolut, es ist ambivalent. Genau deshalb das Vogel-Beispiel: Weil ein Vogel im großen Maß selbst entscheiden kann, ob er zum Begegnungsort kommt oder nicht. Im Gegensatz zu Haustieren, zu Hund, Katze, Meerschweinchen und so weiter – oder dem Vogel im Käfig. Es gibt Tiere, die haben also offenbar ein Eigeninteresse daran, Mitglied dieser gemischten Gemeinschaft zu sein. Ich denke also, anders als einige Tierrechtsaktivisten, nicht, dass es Tieren am besten tut, wenn wir den Kontakt zu ihnen völlig abbrechen.

Tierwohldiskussionen werden ja von nicht wenigen Menschen durchaus als Luxusproblem der westlichen Welt empfunden. Wenn man sich anschaut, wo Nutztiere wie behandelt werden, und wann Diskussionen um ihr Wohlergehen einsetzt, dann könnte man schon folgern, dass jene für viele Menschen überhaupt erst relevant werden, wenn ein gewisser ökonomischer Wohlstand vorhanden ist. Muss man sich Tierwohl also leisten können?

[Überlegt] Nein, glaube ich nicht. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist die Diskussion um das Tierwohl, um die richtige Behandlung von Tieren viel älter als der Wohlstand. Diese tierethischen Diskussionen sind tatsächlich so alt wie die Philosophie. Aber natürlich können wir, zweitens, eine Zunahme der Diskussionen über dieses Thema beobachten. Das liegt meiner Meinung nach aber gar nicht daran, dass man es sich dann erst leisten kann, über solche Dinge nachzudenken, sondern daran, dass alle Wohlstandgesellschaften auf der massiven Ausbeutung von Tieren beruhen. Das Problem wird also größer und sichtbarer. Insofern ist die Diskussion über tierethische Fragen durchaus eine Folge der Wohlstandsgesellschaft – aber indirekt, indem sie erst die Probleme produziert, mit denen man sich dann auseinandersetzen muss.

Um den Kampfhund „Chico“, der eingeschläfert werden sollte, weil er seinen Besitzer und dessen Mutter, die im Rollstuhl sass, totgebissen hatte und als nicht mehr integrierbar galt, hat sich eine unfassbare Welle des Hasses entladen. Insbesondere gegen Menschen. Manchmal scheint es doch, dass extreme Tierliebe vor allem als Ventil für Misanthropie funktioniert. Das Tier ist ja auch eine hervorragende Projektionsfolie, das leicht als besserer Mensch herhalten kann.

Es ist ein Denkfehler, zu glauben: Wenn ich die Verhältnisse umkehre, habe ich die Verhältnisse verbessert. Und ich glaube auch nicht, dass Tiere die besseren Menschen sind. Wenn man mit dem Argument der Tierliebe bei der Gewalt gegen Menschen landet, dann hat man vergessen, dass auch Menschen Tiere sind. Und wieso sollte man das menschliche Tier nicht gut behandeln? Dieses Prinzip der umgekehrten Verhältnisse ist ja ein uraltes Motiv: Da haben wir das Schwein, das plötzlich als Metzger auftritt; den Fisch, der den Menschen am Angelhaken hat. Die „verkehrte Welt“ macht gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar, sie ist ein Reflexionsmedium darüber, wie wir unsere Beziehung zu Tieren gestalten, aber selbst nicht die Lösung.

Wir suchen uns unsere Fami­lie selbst, dazu können auch Tiere gehö­ren. In der Sozio­lo­gie spricht man von „mixed socie­ties“.

Prof. Dr. Roland Borgards

Die menschliche Perspektive werden wir so schnell vermutlich nicht abschütteln können: Welche Schlüsse wir aus dem Verhalten von Tieren ziehen, ist bei allem Bemühen um Neutralität an uns als Menschen geknüpft. So werden als intelligenteste Vogelarten wahlweise die Raben  oder aber die Webervögel betrachtet, je nachdem, welche Kriterien an intelligentes Verhalten man ansetzt.

Der Primatologe Franz de Waal hat zu dieser Frage ein gutes Buch geschrieben: „Are we smart enough to know how smart animals are?“ Mit unseren menschlichen Begriffen stoßen wir hier sicher schnell an unsere Grenzen. Einige Forscher definieren Intelligenz von Tieren daher zum Beispiel als Wirkmacht, die sich im Verhältnis zu anderen entfaltet. Damit vermeiden sie den alten Begriff des Subjekts. Diese Wirkmacht oder „agency“ kann sich auch in der Kunst entfalten, wo es verschiedene Versuche gibt, Tiere als Mit-Künstler zu verstehen. In der Performance-Kunst ist das sofort einleuchtend, etwa in den ikonischen Arbeiten von Joseph Beuys oder Marina Abramovic. Aber in der Literatur haben Tiere natürlich nur eine vermittelte Wirkmacht. Das berühmteste Beispiel des mitschreibenden Tieres ist „Kater Murr“ von ETA Hoffmann, der eine echte Katze hatte, die tatsächlich Kater Murr hieß. Und als Kater Murr gestorben ist, hat Hoffmann auch den Roman nicht weitergeschrieben. Hier sieht man also im Negativbild, dass diese Katze tatsächlich den Roman mitproduziert hat.

Das würden Sie so eindeutig sagen?

Würde ich sagen! Das ist eine komplizierte Angelegenheit, aber ich würde das letztlich so sehen.

Wenn Sie von Tieren sprechen, meinen Sie vermutlich aber schon jenen Bruchteil aller Arten, der ein Rückgrat besitzt, und davon nochmals ein Bruchteil, das dem Menschen schon biologisch näher ist – kurzum: von einer bestimmten Auswahl an Säugetieren. Oder?

In der Regel ist das der Fall, das stimmt. In meiner Arbeit schaue ich mir die Hunde und die Affen in der Literatur an, in einer Forschungsgruppe beschäftigen wir uns mit „Moby Dick“, auch einem großen Tier mit Rückgrat, und anderen sogenannten „Iconic Animals“. Zu denen gehören inzwischen aber auch die Bienen, um die ja eine riesige öffentliche Diskussion losgetreten worden ist. Da sind wir also schon bei den Insekten. Aber natürlich sprechen Sie einen wichtigen Punkt an: Wir beschäftigen uns am stärksten mit den Tieren, die dem Menschen ähnlich sind. Deshalb ist es eine Aufgabe der kulturwissenschaftlichen Tierforschung, gleichmäßige Aufmerksamkeit für alle Tierarten aufzubringen, auch nach den Tieren zu suchen, die sonst nicht im Fokus stehen: den kleinen, unscheinbaren, hässlichen, den störenden. Gerade beschäftige ich mich zum Beispiel mit Parasiten…

Das ist in der Tat einmal eine andere, gleichzeitig ganz handfeste Dimension der Mensch-Tier-Beziehung…

Parasiten sind Tiere, die Sie gar nicht unabhängig von ihrer Umwelt denken können. Das gilt natürlich für alle Tiere, aber bei Parasiten ist es Teil der Definition. Sie leben von ihrem Wirtstier. Und es gibt einige Arten, die an den Menschen geknüpft sind. Da schaue ich mir zum Beispiel ihre Verbreitung in der beginnenden Globalisierung im 15. und 16. Jahrhundert an: Wie sie sich mit dem Beginn eines weltweiten Handels, mit den Schiffen der Handelsreisenden langsam über die ganze Welt ausbreiten. Welche Parasiten werden wann wohin transportiert? An Hand der Parasiten haben sie plötzlich eine ganz neue Geschichte der Globalisierung: Wie sie den Weg der Kolonialisierung mitbeschreiten, als imperiale Tiere. Die Forschung spricht hier von „Colonial Animals“. Für die kulturwissenschaftliche Tierforschung sind also alle Tierarten interessant, ob mit Rückgrat oder ohne. Es gibt so viele Forschungsfragen, wie es Tiere gibt. Und die Auseinandersetzung mit diesen Fragen hat gerade erst begonnen.

Es gibt so viele Forschungs­fra­gen, wie es Tiere gibt. Und die Ausein­an­der­set­zung mit diesen Fragen hat gerade erst begon­nen.

Prof. Dr. Roland Borgards