Tropical Island, Softeis und Eskapismus: Fotografien von Martin Parr bis Pamela Littky dokumentieren in großformatigen Bildbänden die Flucht aus dem tristen Alltag.

Überquellende Mülleimer, vollgestopft mit dem Zivilisationsmüll der sich am Strande sonnenden Menschenmassen, Babys vor holzfurnierten Spielautomaten, spärlich beleuchtete Showbühnen, traurig dreinschauende Menschen im Raketen-Karussell und junge Wilde, die nach Waffeln mit dieser leuchtend türkisfarbenen Eiscreme gieren, die in der bundesdeutschen Kindheit so ähnlich einmal Schlumpf oder Engelblau hieß: Martin Parr war 1986 der erste, der sich dem Urlaubsvergnügen in den britischen Küstenorten mit einer solchen Verve und lustig-frecher Distanzlosigkeit widmete.

Bis heute wird dem Magnum-Fotograf Verachtung für jene Menschen vorgeworfen, die er in Fotoreihen wie „Last Resort“ ablichtete, und mit ebensolcher Leidenschaft treten Parrs Verteidiger auf den Plan. Den Platz als Vorreiter einer neuen Dokumentarfotografie mit grellem Hochglanz-Trash in satten Farben, der für viele Nachfolger stilprägend wurde, macht ihm jedenfalls niemand so schnell streitig.

Senioren beim Schachspiel

1996 folgte die Reihe „Life’s a beach“, die nahtlos anknüpfte, aber zugleich den Fokus erweiterte: Neben Hintern mit Trompe-l’œil-Bademoden, die tropisches Badevergnügen an den heimischen Sand- oder Betonstrand brachten und riesen Softeis-Plastik fotografierte Parr hier ungarische Senioren beim Schachspiel in heißen Thermalquellen und Besucherhorden vor künstlichem Horizont in Miyazakis „Ocean Dome“ , lange bevor hierzulande jedermann vom brandenburgischen „Tropical Islands“ sprach.

Martin Parr, Life's A Beach, Aperture, Image embedded via huffingtonpost.com

Die menschengemachten Welten blieben eines von Parrs Lieblingssujets, der bis heute gern dicht gedrängte Menschen auf ihrem Fleckchen Handtuch am Strand und grelles Essen, das man beim Erholungsurlaub in sich hineinstopft, zum Motiv macht. Damit steht er ganz in der Tradition eines Landmannes, der als eigenständiger Fotograf weitaus weniger bekannt wurde, aber Martin Parrs Arbeit entscheidend geprägt hat – wenn auch als elegante Negativfolie zum Parr’schen Mittendrin-statt-nur-dabei:

John Hinde Butlin oder kurz John Hinde, 1916 geboren, war der Postkarten-Pionier Großbritanniens. Seine schwelgerisch leuchtenden Farben und die feinen Bildkompositionen ließen selbst das örtliche Hallenbad irgendwie glamourös und anziehend erscheinen. Hinde setzte etliche britische Erholungsorte in Szene und fing den Wunsch, sich im allmählich zum Massenphänomen werdenden Urlaub vom sauer verdienten Geld etwas anderes zu leisten als Normalität, in kristallisierter Künstlichkeit von beeindruckender Grazie ein.

John Hinde Butlin, The Indoor Pool, Image embedded via info.sunspel.com

Erst 2004 erschien eine Zusammenstellung seiner schönsten und skurrilsten Motive als Fotobuch. Highlights: Ein Tiki-Themenrestaurant, in dem Gäste in einer Art begehbarem Familie Feuerstein-Diorama speisen, und ein Café mit direktem Aquarien-Panorama auf badende und tauchende Menschen. Hindes Stil war selbstredend kommerziell geprägt – aber hinter der glossy Fassade verbarg sich auch ein ebenso glossy Versprechen, das er niemals der Lächerlichkeit preisgab.

Melancholisch bis bescheuert

Mit nüchternerem Blick, aber deshalb nicht weniger emphatisch nähert sich Frank Robert einer Koryphäe westeuropäischer Vergnügungswelten: „Endstation Sehnsucht“ zeigt Bilder aus dem Wiener Prater, dem lebenden Beweis dafür, dass der Rummelplatz vor den Toren der Stadt eben nicht zwangsläufig besser aufgehoben ist. Robert lichtet eine ganz in Lachs gekleidete Familie oder eine zierliche ältere Dame mit Riesen-Zuckerwatte aus höflicher Distanz ab, fängt Fahrgeschäfte von vorne und von hinten ein und ist auch da, wenn der Prater in der kalten Jahreszeit langsam wieder in seinen Winterschlaf verfällt. Damit schlägt der Fotograf den Bogen zwischen einer Art sozialdokumentarischer und strenger formal geprägten Fotografie, der das Buch mit zurückhaltendem Layout sowie einer Doppelseite Platz für jedes einzelne Mittelformat einen angemessenen Rahmen bietet.

Frank Robert, Endstation Sehnsucht. Der Wiener Prater, Kehrer Verlag, 2017

Dass Freizeiteinrichtungen ohne Menschen ein wenig melancholisch bis geradewegs bescheuert aussehen können, ist kein Geheimnis. Einer, der jenen Situationen weltweit mit besonderer Hingabe nachspürt, ist Stefano Cerio: Der italienische Fotograf macht ideell keinen Unterschied zwischen explizit ausgewiesenen Kunstwelten und Details am Wegesrand, die ebenso zum kurzen Eskapismus dienen.

Verführerische nächtliche Erkundung

In „Chinese Fun“ porträtiert er so gigantische Obstkörbe im chinesischen Nirgendwo, Rutschenparks und absurde Kontraptionen am Strand oder in der Wohnsiedlung – Nicht-Orte, eingefangen bei Nicht-Wetter in schön deprimierendem Grauschleier. Die Lücke zwischen Anspruch und Realität, sie soll hier so weit klaffen wie möglich und wird lustvoll ausgereizt. Nachts zeigt sich bisweilen ein gegenteiliger Effekt: Hier wirken jene Freizeitparks, die Cerio in „Night Games“ mit spezieller Blitztechnik einfängt, kaum weniger grotesk, aber ebenso verführerisch zur nächtlichen Erkundung ladend.

Stefano Cerio, Chinese Fun, Hatje Canz Verlag, 2017, Image embedded vía hatjecantz.de

Einer innerhalb der künstlichen Vergnügungswelten ganz eigenen Erscheinungsform widmet sich Pamela Littky: Die ziehenden Rummelplätze und Rodeo-Shows öffnen ihrem Publikum das Tor zu einer anderen Dimension und schließen es nach abgelaufener Zeit wieder. Littky fotografiert jene temporären Räume in Kansas, Missouri oder Mississippi, an Straßenrändern, auf Schotterpisten und Feldern. Wo man für eine Handvoll Dollars Fotos mit einem echten Wolf machen kann, eine Portion Süßigkeiten bekommt oder eine Runde im Riesenrad dreht.

Dort also, wo der Besuch der fliegenden Fahrgeschäfte und Budenhändler für viele Menschen tatsächlich einen langersehnten Höhepunkt im Jahr darstellt – mit Fieber in den Augen, die so hell strahlen wie die Popcorn-Bude in der Dämmerung. Für diese Motive hätte es der oft bis an den Anschlag gedrehten Kontraste, die vielleicht ein wenig auch Littkys Arbeit als Celebrity-Fotografin geschuldet sind, eigentlich gar nicht bedurft.

Pamela Littky, American Fair, Kehrer Verlag, in Vorbereitung, Image embedded  via pamelalittky.com