Die diesjährige Lyon Biennale verbindet unter dem Titel „Manifesto of Fragility” über 2.000 Jahre Geschichte. Spannungsreich bieten die historischen Objekte, Orte und Erzählungen einen Rahmen für die Werke zeitgenössischer Kunst.

Einst wurde Lyon als internationales Zentrum der Seidenweberei zur wohlhabenden Metropole. Heute ist die Stadt Austragungsort von Frankreichs wichtigster Ausstellungsreihe, der Lyon Biennale. Ihre 16. Ausgabe, kuratiert von Sam Bardaouil und Till Fellrath, bezieht sich explizit auf die Geschichte der Stadt und schafft dabei einen gekonnten Dialog mit der Gegenwart. So werden etwa die „Canuts" (frz. für Seidenweber*innen) behutsam in Erinnerung gerufen. Die Textilarbeiter*innen führten in der Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten großen sozialen Aufstände in Frankreich herbei und organisierten damit im Proletariat eine Interessengemeinschaft.

Nostalgie neben Neuanfang bei Annika Kahrs

Unter den rund 200 beteiligten Künstler*innen bezieht sich Annika Kahrs auf ebendiesen Teil lokaler Geschichte. Ihre Videoarbeit „Le Chant des Maisons” (2022) nimmt die monumentale Halle eines modernen Industrieareals ein, das als Hauptstandort der Biennale dient. In den sogenannten „Usines Fagors” wurden in den 1980er Jahren Haushaltsgeräte und später Autos produziert, bis die Fabrik 2015 stillgelegt wurde. Gedreht hat die Künstlerin ihren Film wiederum an einem anderen historischen Ort der Stadt, und zwar in der entweihten Kirche Saint-Bernard. Ein Chor, ein Blasorchester und ein Organist beleben die gotische Architektur, indem sie vor dem Altar Musik spielen. Unter anderem erklingt die Hymne „Le Chant des Canuts” (1894) als direkter Verweis auf die Revolten von damals. Auch eine Gruppe an Handwerkern tritt auf. Aus Holzpaletten bauen sie im Gotteshaus das Grundgerüst einer simplen Hütte. Ein Haus im Haus, Nostalgie neben Neuanfang. Auf gelungene Weise korrespondiert der Biennale-Beitrag mit der Industriekathedrale, in der er präsentiert wird, und predigt dabei die Stärke von Gemeinschaft.

Annika Kahrs, Le Chant des Maisons (filmstill), 2022, Courtesy of the artist und Produzentengalerie Hamburg
Annika Kahrs, Le Chant des Maisons (Filmstill), 2022, Courtesy of the artist und Produzentengalerie Hamburg
Annika Kahrs, Le Chant des Maisons (Filmstill), 2022, Courtesy of the artist und Produzentengalerie Hamburg
Die unerforschte Biografie der Louise Brunet

Im Gegensatz dazu wird im macLYON, dem Museum für Gegenwartskunst, eine Figur zum Leben wiedererweckt, der bisher kein Platz in den Geschichtsbüchern eingeräumt wurde: Louise Brunet. Ihre unerforschte Biografie wird von den Kuratoren verwendet, um auf die Fragilität des Seins und Formen von Widerstand aufmerksam zu machen – die zentralen Themen der Schau. Brunet kämpfte als Textilfabrikantin für bessere Arbeitsrechte und gegen das brutale Regime. Ermüdet von der aussichtslosen Rebellion und angetrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben, siedelte sie in den Libanon über, wo die Seidenbranche florierte. Wie Briefe belegen, wurde sie jedoch von den dortigen Machthabern auf ähnlich grausame Weise unterdrückt. Niemand weiß, was letztlich mit ihr geschah, und so imaginiert der Ausstellungsteil mittels historischer Artefakte und zeitgenössischer Kunst mögliche Szenarien von Momenten der Emanzipation.

Die Malerin Jesse Mockrin kopiert etwa Fragmente aus Gemälden der europäischen Kunstgeschichte, wodurch neue Perspektiven auf die Vergangenheit eingefordert werden. Ihre Ölgemälde deuten nicht nur auf die Lückenhaftigkeit unserer Geschichtsschreibung hin, sondern stellen auch Machtverhältnisse in binären Weltanschauungen in Frage. Rafael França zeigt in seinem Video „Prelude to an Announced Death” (1991) die zärtliche Zuneigung von homosexuellen Männern inmitten der Aids-Epidemie, die auch ihm das Leben kostete. Es handelt sich um seine letzte künstlerische Arbeit – ein Abschiedswerk, das auf eindringliche Weise ein Vergessen unterbindet. Die Kuratoren wagen mit der Werkauswahl einen Spagat zwischen der Präsentation starker künstlerischer Positionen und der Spekulation um die junge Revolutionärin. Eines ist sicher: Louise Brunet dürfte nach dieser Biennale aus dem kollektiven Gedächtnis der Lyoner*innen nicht mehr zu wegzudenken sein.

Jesse Mockrin, Wound, 2022, Laurent und Corinne Opman Collection, Image via labiennaledelyon.com

Beirut und die „Goldenen Sechziger"

Mit Brunets Übersiedlung in den Libanon schafft das deutsch-libanesische Kuratorenduo auch einen gedanklichen Sprung nach Beirut. In einem eigenen Ausstellungskapitel steht die Stadt am Mittelmeer in ihrer Blüte der „Goldenen Sechziger“ im Fokus. Die reiche Ansammlung an Archivdokumenten und Kunstwerken beinhaltet bekannte Namen wie Etel Adnan oder Simone Fattal. Die beiden Künstlerinnen reagieren in ihren Arbeiten widerständig auf den Bürger*innenkrieg von 1975 bis 1990. Joana Hadjithomas und Khalil Joreige lenken die Aufmerksamkeit hingegen auf jüngste Ereignisse. Das Duo konfrontiert die Besucher*innen mit originalem Filmmaterial vom 4. August 2020. Es ist der Tag der verheerenden Explosionskatastrophe im Hafen der libanesischen Hauptstadt, die einen Schock und Massenproteste auslöste.

Während in diesen zwei Themenkapiteln sämtliche Kunstwerke präzise in das kuratorische Konzept eingewoben sind, stehen sie andernorts stärker für sich allein. Insgesamt sind es diesmal 12 Standorte, die sich in der Stadt verteilen. Besonders sehenswert ist das Musée Guimet, ein 1879 erbautes, aber seit Jahren leerstehendes und entsprechend zerfallenes Museumsgebäude. Die dystopische Atmosphäre verbindet sich eindrucksvoll mit der begehbaren Licht- und Soundinstallation von Evita Vasiljeva. Wenn das Publikum einen ausgedienten Archivraum betritt, flackern giftgrüne Neonröhren unter elektrischen Lärmgeräuschen auf. Die Choreografie entzieht sich wiederholt der Kontrolle der eindringenden Besucher*innen und hinterlässt ein beklemmendes Körperempfinden.

Installationsansicht: Puck Verkade, Plague, 2019, Courtesy the artist und Durst Britt & Mayhew

Joana Hadjithomas und Khalil Joreige, As night comes when day is gone, Installationsansicht © Luca Girardini, Image via zeit.de

Evita Vasiljeva, Impulse (J or Imp), 2020-2022, Courtesy the artist, Image via labiennaledelyon.com

Zwischen Tarnung und Drag, Fakt und Fiktion

Auch Puck Verkade schafft eine unbehagliche und surrealistische Atmosphäre, spielt dabei jedoch mit Motiven des Absurden. Ihre Videoarbeit „Plague” (2019) läuft im Endlos-Loop und bedient sich analogen Filmtechniken wie der Stop-Motion-Animation, sowie handgefertigten Kostümen und Requisiten. Letztere treten mitunter installativ in den Raum heraus. So tunken überdimensionale Pommes frites aus Pappkarton in einen Ketchup-artigen Teppich am Boden. Im Film wiederum sind sie gefundenes Fressen für eine schimpfende Stubenfliege, die gegenüber einer verzweifelten Hausfrau über die Ausrottung der Menschheit fantasiert. Irgendwo zwischen Tarnung und Drag, Fakt und Fiktion kommentiert Verkade einen psychologischen wie ökologischen Zusammenbruch. Sie verweist dabei auf das als Solastalgie bezeichnete Verlustgefühl, das durch die Zerstörung des eigenen Lebensraums entsteht und mahnt humorvoll zur Umsicht.

Eine Plattform für aufstrebende Positionen

Nicht nur für Verkade ist es der erste Biennale-Auftritt. Die Großausstellung bietet eine internationale Plattform für viele aufstrebende Positionen wie beispielsweise kennedy+swan, die einen mehrteiligen 3D-Film auf KI-Basis zeigen. Oder für Jean Claracq: Seine Malerei-Installationen sind im Museum Lugdunum (lat. für „Lyon”) zu sehen. Der Künstler setzt sich in drei Neuproduktionen mit der archäologischen Sammlung auseinander, indem er einzelne Objekte mit Elementen unserer Gegenwart vereint. Junge Männer mit Smartphones, hochpolierte Autos und urbane Ansichten treten in einer an Renaissance-Malerei angelehnten Malweise in Erscheinung. Für die kaum zu durchdringende Dichte an Referenzen ließ sich Claracq von analogen Werbeflächen in der Pariser Métro inspirieren. Zerrissene Plakate geben dort Einblicke in Vergangenes frei und so überlagern sich auch in seinen Bildern scheinbar divergierende Motivschichten. „Tout doit disparaître” („Alles muss raus”) steht auf einer Arbeit mit ebendiesem Titel. Der Satz liest sich einerseits als bekannter Slogan aus dem kapitalistischen Konzept des Warenschlussverkaufs, andererseits als eine Kritik an Geschichtsamnesie.

kennedy+swan, Delphi Demons (Filmstill), 2022, Courtesy of the artists
Installationsansicht: kennedy+swan, Delphi Demons, 2022, Filmstill, courtesy the artists, Foto: Blaise Adilon
Detailansicht: Jean Claracq, Tout doit disparaître, 2022, Courtesy the artist und Galerie Sultana, Foto: Amande Dionne

Während Claracq museale Objekte inte­griert, mischen sich histo­ri­sche Samm­lungs­stü­cke auch unter andere Stand­orte. Zwischen den raum­grei­fen­den Instal­la­tio­nen in den Fagor-Fabrik­hal­len blicken etwa antike Skulp­tu­ren aus dem Musée des Moula­ges auf das Hier und Jetzt. Was sie wohl beim Anblick von Klára Hosnedlovás futu­ris­ti­scher Stein­land­schaft denken, in der ihre akri­bisch geweb­ten Seiden­bil­der an künst­li­chen Stalag­mi­ten hängen? Oder über die dekon­stru­ier­ten Wohn­räume von Pedro Gómez-Egaña, die regel­mä­ßig von Perfor­mer*innen verän­dert werden?

Zurück bleiben Fragen

Fragen wie diese könnten auch von James Webb stammen. Seine Soundarbeit ist auf mehrere Bereiche der Biennale verteilt. Zu hören ist immer die gleiche Stimme, die interessierte Fragen an das Vermächtnis Lyons stellt. „Was können Sie Ihrem Publikum nicht bieten?”, befragt sie beispielsweise ein Museum. Auf eine stille Pause folgt nichts weiter als die nächste Frage: „Wie können wir Ihre Räume zu einem Teil des Lebens aller Menschen in dieser Stadt machen?”

Was können Sie Ihrem Publikum nicht bieten?
JAMES WEBB
Wie können wir Ihre Räume zu einem Teil des Lebens aller Menschen in dieser Stadt machen?
JAMES WEBB

Genau diese Über­le­gung scheint für die Macher*innen der 16. Lyon Bien­nale von zentra­ler Bedeu­tung gewe­sen zu sein. Denn das Ergeb­nis verspricht vor allem eins: Zugäng­lich­keit. Die Ausstel­lung macht Geschichte begreif­bar, ohne zu beleh­ren oder Aktua­li­tät außer Acht zu lassen. Eine tiefer­ge­hende Präzi­sion des titel­ge­ben­den „Mani­festo of Fragi­lity” hätte aller­dings nicht gescha­det. Zerbrech­lich­keit und Verwund­bar­keit werden von den Kura­to­ren als ein welt­um­span­nen­des Exis­tenz­mo­dell gedacht. Alles Leben ist von Fragi­li­tät geprägt – so der Tenor. Wenn wir dies erken­nen, können wir unsere eigene Fragi­li­tät als eine Art Werk­zeug für Wider­stand nutzen – so der Appell. Diese Idee verharrt jedoch an der Ober­flä­che. Als schein­ba­res Mani­fest dekla­riert, hinter­lässt die Bien­nale – à la James Webb – damit auch einige offene Fragen.

Installationsansicht: Jean Claracq, Tout doit disparaître, 2022, Courtesy the artist und Galerie Sultana, Foto: Amande Dionne

Die 16. Lyon Biennale: Manifesto of Fragility

14. September - 31. Dezember 2022

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