Exzen­trisch, faszi­nie­rend, absto­ßend, unter­halt­sam und voller Symbole: Der Film „The World of Gilbert & George“ ist eine Collage über die Kunst­taug­lich­keit des Alltäg­li­chen im London der 1980er Jahre.

Was ist das für ein perverser Haufen Essen, an dem die Kamera in „The World of Gilbert & George“ in einer Großaufnahme seitlich vorbei schleicht, während eine getragene Off-Stimme dem fettigen Altar huldigt: „Hier die stattliche Schönheit der täglichen Speisen: In Speckscheiben geschnittenes Schwein, eklige Würste, die so lecker schmecken, Koteletts, Fettkügelchen mit Fettpudding“. Schon 1981 zelebrierten Gilbert und George subversiven Foodporn.

Auch zu Beginn ihres avantgardistischen Mashups aus Künstler-Selbstporträt und Alltagsverkünstelung steht eine Seitwärtsbewegung: Während eine Kirchenglocke läutet, tastet sich die Kamera gemächlich über die den Himmel kitzelnden Londoner Dächer, bis schließlich ein Kirchturm zu sehen ist. Es folgen Aufnahmen von Pflanzen, ein verballhorntes Vaterunser, Menschen, Stadt. Aus dieser Trias, Religion, Mensch und Natur, montiert das Künstlerduo eine mal bedeutungsschwangere, mal verrückt-subversiv daherkommende Collage über die Kunsttauglichkeit des Alltäglichen, hier speziell jenes Margaret Thatcher-Londons der 1980er Jahre und über die Kunst im Allgemeinen.

„Ich glaube an die Kunst, die Schönheit und das Leben des Künstlers, der ein exzentrischer Mensch ist und etwas von sich zu sagen hat. Schönheit ist meine Kunst“ ist so eine Aussage, die Gilbert und George nacheinander in ihrem emotionslosen Duktus abspulen. Was ist die Schönheit, was ist die Kunst? Die Antwort, die sich aus den Arbeiten des seit ihrer Begeg­nung in der Londo­ner Saint Martin’s School of Art 1967 gemeinsam agierenden Künstlerduos speist: alles, es kommt auf den Blick an. Der gesamte Film ist, wenn man so will, eine ihrer „Living Sculptures“, in denen Gilbert und George zugleich Thema und Gegenstand ihrer Kunst werden und überdies ihre Themen auf der Straße verhandeln.

We are unhealthy, middle-aged, dirty-minded, depressed, cynical, empty, tired-brained, seedy, rotten, dreaming, badly behaved, ill-mannered, arrogant, intellectual, self-pitying, honest, successful, hard-working, thoughtful, artistic, religious, fascistic, blood-thirsty, teasing, destructive, ambitious, colorful, damned, stubborn, perverted and good. We are artists.

Gilbert & George, 1981

THE WORLD OF GILBERT & GEORGE

Trailer zum Film

Als Zeitdokument zeigt „The World of Gilbert & George“, der zwischen 1980 und 1981 gedreht wurden, eine triste britische Hauptstadt. Alles ist grau in grau, wenn die Handkamera durch die Straßen wackelt und kleine Graffiti-Schmierereien an schäbigen Hauswänden einfängt. Wenn einmal der Union Jack, den das Duo mit „Jack Freak Pictures“ 2008 auch in einer seiner umfangreichsten Serie verarbeitet hat, trostlos im Wind flattert, kann man gar nicht anders, als einen Bezug zum gegenwärtigen BREXIT herzustellen.

Der Film zeigt eine triste briti­sche Haupt­stadt

Auch die Jugendlichen, die das Duo vor die Kamera holt, strahlen nicht eben vor Lebensfreude. In Portraitaufnahmen sind sie zu sehen, so nah herangeholt, dass ihre mal jugendlich-feisten, mal ausgemergelten Gesichter alleine mit einer Mimik ganze Geschichten erzählen. Aus ihren Antworten, „Freunde treffen“,  „Abhängen“, „Fußball spielen“ erschließt sich, dass nach den Interessen und Hobbys gefragt wurde. Ein anderes Mal zoomt die Kamera langsam von der Halbtotalen auf das Gesicht eines nackten, jungen Mannes heran. „I am a young man“ sagt dieser dreimal, während er raucht. Wie ein Mantra wirken diese Worte. Glaubt er selbst daran? Wie lange noch ist er jung?

Gilbert & George, QUEER, 1977, 301 x 251 cm, Courtesy of Gilbert & George

Ein ganzes Panoptikum an Stimmungen und Gefühlen tut sich in diesen teils dokumentarisch spontan wirkenden, teils augenscheinlich inszenierten Szenen auf: die Poesie des Alltags. Zugleich offenbart sich darin das Absurde des menschlichen Seins, unterhaltsamer Nonsens inklusive. Man kann sich vorstellen, dass die französischen Existenzialist*innen ihren Spaß an dem Film gehabt hätten. Zwischendurch kehren die beiden immer wieder in ihre holzvertäfelte Wohnung im Stadt­vier­tel Spital­fields im Osten Londons zurück, in dem sie seit über fünf Jahrzehnten leben. Wie aus einer Kommandozentral blicken sie von dort aus auf ihre Heimatstadt.

Rausch im Dienste der Kunst

Natürlich wird auch getrunken in „Gilbert & George“, schließlich gehört der Rausch seit immer zu den Themen des Duos. Einmal fängt die Kamera Gläser ein, die geleert und mit zittriger Hand wieder gefüllt werden, während die zwei, ihre Köpfe sind nicht zu sehen, von Pub-Atmosphäre umgeben sind. Ein anderes Mal betrinken sie sich in front einer weißen, ausgeleuchteten Rückwand, sie schlingern, lallen, gestikulieren. George, wie so oft, mit Zigarette in der Hand: Saufen im Dienste der Kunst.

The World of Gilbert & George, 1981(Film still), Image via www.anothermag.com

Was das Duo in „The World of Gilbert & George“ abfackelt, ist vieles: exzentrisch, faszinierend, abstoßend, unterhaltsam, voller Symbole und ein ganzes Potpourri an Themen tangierend. Das mag in seiner assoziativen Montage nicht leicht zugänglich sein, ist aber allemal lohnenswert. Am Ende gibt es einen vitaminreichen Dauerorgasmus, wenn sich Gemüse und Obst aneinander reiben. „We are the slaves of beauty“ heißt es einmal. Eine ganz und gar eigensinnige Schönheit ist das, die Gilbert und George da in ihrer Welt zelebrieren.

FILMSCREENING

„THE WORLD OF GILBERT & GEORGE“ (1981, 69 Min.)

DONNERSTAG, 1. April 2021, 20 Uhr, Teilnahme kostenlos

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