Ein Sommer, eine russische Rockband und der Wunsch nach Freiheit. Davon erzählt der stimmungsgeladene Film Leto, der jetzt in die deutschen Kinos kommt. Wir haben ihn vorab unter die Lupe genommen.

Folgt man der westlichen Berichterstattung, so sieht es in Sachen Meinungsfreiheit nicht gerade rosig aus in Russland: Regimekritische Journalisten werden schikaniert, die Behörden sperren Internetseiten ohne Gerichtsbeschluss und auch um die Freiheit von Kunst- und Kulturinstitutionen scheint es derzeit schlecht zu stehen. Man liest von national oder religiös motivierten Randalierern, die Ausstellungen stürmen, von einem gerade in diesem Jahr geschlossenen Gulag-Museum. Erst Anfang des Jahres wurde die politische Filmsatire „The Death of Stalin“ verboten, weil, wie ein Berater des Kulturministeriums erklärte, der Film „eine gezielte Provokation“ sei, die zum Hass anstachele.

Auch Kirill Serebrennikov hat es getroffen. Der russische Film-, Theater- und Opernregisseur, der auch das Moskauer Gogol-Zentrum leitet, sitzt wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Gelder in Höhe von 68 Millionen Rubel in Hausarrest. Nach Angaben des Regisseurs wirft man ihm vor, die bestellte Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ nicht umgesetzt zu haben. Das Stück wurde allerdings in Russland und im Ausland aufgeführt und sogar medial besprochen. Serebrennikov fiel zuvor schon wegen seines offenen Umgangs mit und seinem Engagement für Homosexualität auf, auch sprach er sich gegen die Annexion der Krim aus. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, darunter Cate Blanchett, Volker Schlöndorff und Nina Hoss, solidarisierten sich mit dem Regisseur und forderten seine sofortige Freilassung.

Eine stimmungsgeladene Collage über Zensur und innere Freiheit

Vor diesem Hintergrund wirkt Serebrennikovs neuester Film „Leto“ (dt. Sommer) wie eine künstlerische Antwort. Seine atmosphärische Hommage an zwei Legenden der russischen Rockgeschichte ist eine stimmungsgeladene Collage über äußere Zensur und innere Freiheit.

Mike Naumenko (c) Weltkino

LETO

Trailer zum Film von Kirill Serebrennikov

Dass der Musikfilm überhaupt den Weg ins Kino gefunden hat, ist keinesfalls selbstverständlich, denn der Regisseur wurde bereits während der finalen Dreharbeiten im August 2017 festgenommen und hat den Film während seines Hausarrests fertig gestellt. Damit konnte er auch der Weltpremiere beim diesjährigen Filmfestival in Cannes nicht beiwohnen.

„Leto“ zieht den Zuschauer buchstäblich hinein in ­einen Sommer zu Beginn der 1980er Jahre. In langen Einstellungen folgt Vladislav Opelyants' dynamische Kamera zu Beginn drei weiblichen Fans, auf der Tonspur poltern Bass, Schlagzeug und Gitarre eines Soundchecks. Klammheimlich finden die Frauen über ­eine improvisierte Leiter und durch das ­Herrenklo in einen Saal, in dem Mike Naumenko (Roma Zver) und seine Band Zoopark gerade „Du bist ein Miststück“ von der Bühne schmettern. Das Bild wirkt absurd, denn die Fans müssen sitzen. Plakate oder emotionale Ausbrüche sind tabu. Wir befinden uns im Leningrader Rock Club, dem Mekka der damaligen russischen Underground-Rockszene. In Serebrennikovs Film wird der Club zur architektonischen Manifestierung eines Russlands kurz vor der Perestroika, in dem es um die künstlerische und persönliche Freiheit nicht gut bestellt ist.

(c) Weltkino
v.l. Viktor Tsoi, Natalia Naumenko, Mike Naumenko © Weltkino

Vordergründig erzählt „Leto“ von der schicksalhaften Begegnung von Mike und seiner Frau Natalia Naumenko (Irina Starshenbaum) mit dem jungen Musiker Viktor Tsoi (Teo Yoo), von den Anfängen von Tsois legendärer Band „Kino“, von einer Ménage-à-trois, Alkohol und Rock'n'Roll. Der Film kommt allerdings nicht als klassisches Biopic daher, vielmehr ist die Geschichte, die auf den Erinnerungen von Natalia Naumenko basiert, ein Vehikel: für einen Film, der die künstlerische Freiheit zelebriert, und zwar auf allen Ebenen.

Ruhig zeichnet der Film einen flirrenden Sommer

Das fängt bei der freien Interpretation der damaligen Ereignisse an, für die Serebrennikov Anfeindungen aus dem Dunstkreis Tsois geerntet hat. So hieß es, er fange die Undergroundszene nicht authentisch ein. Auch das Verhältnis zwischen Mike, Natascha und Viktor habe es in der dargestellten Form nicht gegeben. Kritiken dieser Art gehen allerdings an Serebrennikovs Film vorbei, der nicht den Anspruch erhebt, alles faktengetreu wiederzugeben.

Kennenlernen am Strand. In der Mitte Viktor Tsoi © Weltkino

Filmstill, Image via www.welt.de

Nicht umsonst taucht mehrfach ein Typ mit Brille auf und erklärt per Plakat „Das ist alles gar nicht so passiert“ oder, direkt in die Kamera blickend in Bezug auf Tsoi: „Schaut ihm nicht ähnlich.“ In „Leto“ geht es nicht um sachliche Geschichtsrekonstruktion, sondern um die Wiedergabe von Stimmungen. In ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern zeichnet der Film einen flirrenden Sommer, der ganz im Zeichen des kreativen Müßiggangs und eines leisen Aufbegehrens steht. „Sommer! Brät mich wie eine Boulette. Hab‘ zwar viel Zeit, aber kein Geld, aber das ist mir total egal“, schnurrt Naumenko Gitarre spielend am Meer, kurz bevor er Tsoi kennenlernt. Musik ist in Serebrennikovs Film der Katalysator schlechthin.

Mit explosiver Musik entlädt sich die Revolution

Die Lieder der Rocker strotzen vor Rotzigkeit und Anti-Establishment. „Ihr zieht den Rock direkt in die Gosse zurück“, meckert eine Frau von der Zensur und lässt den auf Charme gebürsteten Musikern dann doch vieles durchgehen. Zwischendurch explodiert das enge Korsett, entlädt sich die gewollte (musikalische) Revolution in knalligen Musikvideos zu Songs von den Talkings Heads, Billy Idol oder Lou Reed, den Vorbildern von Naumenko und Co.

Brillentyp mit Plakat © Weltkino
v.l. Mike Naumenko, Viktor Tsoi © Weltkino

Zu Iggy Pops „The Passenger“ etwa verwandelt sich ein steriler Bus in eine abwechselnd trällernde Partygesellschaft, während Animationen das Treiben Tsois visuell verstärken. Später brechen Farbbilder das Grau in Grau auf. Einmal eskaliert auch der Club in Rockkonzert-Manier, nachdem der Brillen-Typ brüllt: „Lass die Sau raus, Mike.“ Natürlich ist das so nie passiert. Aber die Botschaft ist eindeutig: „Leto“ ist ein bild- und musikgewaltiges Plädoyer für die Freiheit.

Sommer! Brät mich wie eine Boulette. Hab‘ zwar viel Zeit, aber kein Geld, aber das ist mir total egal.

Mike Naumenko