Geschichten aus dem Raum dazwischen: Der britische Künstler Tris Vonna-Michell zeigt im DOUBLE FEATURE am 25. September seinen Film "Registers".

Was vermögen Bilder, genauer: Fotos, über die Realität zu verraten? Sind sie ein Abbild ebenjener, oder viel eher eine aus dem Dunkel des Negativ durch Licht wie durch Zauberhand vermittelte Interpretation der Realität? In Michelangelo Antonionis 1966 erschienenem Film „Blow up“ beobachtet ein Fotograf in einem Park wie zufällig ein Paar und hält sie per Fotokamera fest. Hat er damit seine Wahrnehmung der Realität eingefangen, oder die von ihm unabhängig existente Außenwelt?

Bei der Entwicklung stellt der Fotograf seltsame Dinge fest: Ragt da eine Pistole aus einem Gebüsch, die er vor Ort überhaupt nicht bemerkt hatte? Ist seine Kamera Zeuge eines Mordes geworden, er selbst jedoch nicht? Und in der Tat meint Antonionis‘ Protagonist auf den nachfolgenden, rasch entwickelten Bildern, die den Fotochemikalien ausgesetzt langsam ihre Wirklichkeit preisgeben, genau das zu sehen: ein Verbrechen, schließlich auch eine Leiche. Doch je mehr er die Bilder auf ihren Repräsentationsgehalt hin untersucht, umso unklarer wird jener. Mit jeder Vergrößerung wird das Foto seiner Eindeutigkeit beraubt, zurück bleiben körnige Bildpunkte, anstelle einer reellen Wirklichkeit nur noch unscharfe Blickpunkte, die alles und nichts bedeuten könnten, zeigen.

Und dann der Nebel

Während Antonioni sich in einem vielbeachteten Spielfilm den Fragen nach Realität, Zeit und gar der Wahrnehmung im Großen und Ganzen nähert, kann der geneigte Betrachter ähnliche Fragenstellungen beim britischen Künstler Tris Vonna-Michell (*1982) – hier in Form eines künstlerischen Audioslides – ausmachen. „Registers“ (2016) zeigt zuvorderst eins: Fotos, sowohl im melancholischen Schwarz-Weiß als auch in Farbe. Auf der Tonspur erklingt die Atmo, die im Film oder Hörfunk den Raumeindruckes eines bestimmten Ortes wiedergeben soll. Dann eine Stimme, dem Fotograf bzw. Künstler selbst gehörend, die von einer Kamera berichtet: Eine schwere Kamera, nicht klar, ob sie überhaupt funktioniere.

Tris Vonna-Michell, Registers, Film Still, 2017, Copyright the artist

Double Feature. Tris Vonna-Michell

Und dann war da immer ein Nebel. Die ganze Zeit habe er, der Erzähler, Fotos gemacht. Die vorgetragene Narration im knapp 12-minütigen „Registers“ steigert sich von einer beiläufigen Anekdotenform rasch in eine stream of consciousness-artige Beat-Poetik. Die Worte des Erzählers werden schneller, drohen sich zu überschlagen. Bestimmte Worte werden stetig wiederholt: Exposure, clean, right hand, left hand, fog, pollution, room. Die Bilder hingegen verraten nichts von der Aufregung, in ruhiger Abfolge zeigen sie Stadtansichten, Menschen, Groß- und Makroaufnahmen. Wir befinden uns in Japan.

Detailverliebt bis zur Unkenntlichkeit

2001 verbrachte Tris Vonna-Michell einige Zeit in Tokyo. Nachdem er all sein Geld verloren hatte, schlief er für mehrere Wochen auf der Straße, kam schließlich für einige Zeit bei einer psychisch kranken Hostess unter, die in London Kunst studiert hatte. 2008 kehrte Vonna-Michell zurück nach Japan – die Fotos aus „Registers“ stammen aus jener Zeit. Arbeitet hier also jemand seine Vergangenheit anhand von Bildern auf, rekonstruiert (s)eine eigene Geschichte? Die Bilder geben keinen Aufschluss darüber. Auch die Erzählung aus dem Off bleibt vage oder dann wieder so detailverliebt, dass jegliche Klarheit verunmöglicht wird.

Tris Vonna-Michell, Registers, Film Still, 2017, Copyright the artist

Vonna-Michell verstärkt diese Uneindeutigkeit auf der formalen Ebene noch, wenn er zwischenzeitlich die Fotos auf eine Wasserfläche projiziert und die Bilder zu wabern beginnen. Dieser eindrucksvollen Impressions-Melange, die aus der Kombination der nahezu autonom genutzten Bild- und Tonebene entsteht, bedient sich Tris Vonna-Michell immer wieder. So wie in der Mixed Media-Installation „Postscript 1“, in der sich der Künstler 2013 anhand von eigenen Fotos sowie Archivmaterial und selbst aufgenommenen Sprachaufnahmen der persönlichen Geschichte seiner aus Berlin stammenden Mutter näherte und jene mit Erzählungen seines Vaters aus dem Kalten Krieg vermischte.

Auf die Leerstellen konzentrieren

Im zweiten Teil des Abends wird Takahiko Iimuras Experimental-Film „MA: Space/Time In The Garden Of Ryouan-Ji“ aus dem Jahre 1989 zu sehen sein. Der Film beschäftigt sich dem Titel folgend mit dem japanischen Wort „Ma“ (間), das sich als Raum bzw. Lücke zwischen zwei Struktureinheiten verstehen lässt. Langsam fährt die Kamera den Zen-Garten des Ryōan-ji Tempels ab. Das Auge des Betrachters fokussiert automatisch die bemoosten Steingruppen, die von weißem Kiesel umgeben sind. Das Bild ist unterlegt mit stark hallenden, perkussiven Tönen. Nachdem die Kamera den Garten einmal der Länge nach abgefahren ist, fordert ein Zwischentitel den Zuschauer auf, nicht die Objekte oder die Töne zu beachten, sondern die Distanz sowie die Pausen zwischen ihnen.

Tris Vonna-Michell, Registers, Film Still, 2017, Copyright the artist

Leerstellen definieren die Ereignisse, die entsprechend zur Unterbrechung der Substanz „leerer/ereignisloser Raum“ werden. Erlebnisse entstehen so in gewisser Weise aus jenen Nicht-Ereignissen heraus. Jene Leerstellen scheinen bei Vonna-Michell sodann auch den Unterschied im Ganzen auszumachen, indem sie die Lücken zwischen Gezeigtem und Gehörtem okkupieren und in der Wahrnehmung des Betrachters eine ganz eigene Geschichte entstehen lassen. Ähnlich den körnigen Bildpunkten, die als Resultat der größten Vergrößerung in „Blow up“ als einziges übrig bleiben und eine unabhängige Ereigniswelt in sich zu bergen scheinen. So wie Jochen Distelmeyer einst sang: „Eine eigene Geschichte aus reiner Gegenwart, sammelt und stapelt sich von selbst herum um mich“.

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