Im Mousonturm verwandeln Filmemacher Daniel Kötter und Komponist Hannes Seidl die Bühne in einen immersiven Erfahrungsraum. Dabei stellen sie grundsätzliche Fragen nach Zivilisation und Gemeinschaft.

Zuerst wirkt alles wie ein gewöhnliches Picknick. Auf einer grünen Wiese sitzen und liegen junge und ältere Menschen. Sie essen, lesen, unterhalten sich, wandeln umher oder verweilen einfach nur auf ihren Decken. Umgeben sind sie von Musikern, die ruhige Trompeten-, Horn- und Posaunenklänge spielen.

Auf einem übergroßen Bildschirm setzt sich die wie eine utopische Idylle anmutende Szenerie fort. Dort ist eine Art Landkommune zu besichtigen, die, ebenfalls zuweilen von Blechbläsern begleitet, ein experimentelles Zusammenleben probt.

Doch das Picknick findet nicht unter freiem Himmel, sondern in einem abgedunkelten Theatersaal statt. Es ist Teil des Musiktheaterstücks „Land“ von Daniel Kötter und Hannes Seidl. Das Stück betone das Gleichzeitige und Gemeinsame des Landlebens, sagt der 1977 geborene Komponist Seidl. „Es geht darum, sich von dieser Atmosphäre einsaugen zu lassen.“ Das Stück hebt die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum auf: Die Picknicker sind zugleich Besucher und Teilnehmer eines insgesamt fünfstündigen Erfahrungsraums.

LAND © Marcus Lieberenz
LAND © Marcus Lieberenz
LAND © Marcus Lieberenz

„Land“ wurde bereits 2018 im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm uraufgeführt. Zusammen mit den ebenfalls von Kötter und Seidl entwickelten Musiktheaterstücken „Stadt“ und „Fluss“ bildet es eine Trilogie, die vom 14. bis 18. Januar im Mousonturm zu sehen ist. Alle drei Stücke stellten, so Seidl, die gleiche Frage: „Wie wollen wir zusammenleben?“ Die Produktionen setzen das Grundthema in jeweils unterschiedliche Theatererfahrungen um. „Stadt“ betone etwa das Vielstimmige und Heterogene des urbanen Lebens, erläutert Seidl.

Unterdessen werfe „Fluss“, das neueste Stück der Trilogie, den Betrachter auf sich selbst zurück. Erstmals wurde es im vergangenen Herbst in der Berliner Akademie der Künste gezeigt. Jeder Besucher bekommt eine Virtual-Reality-Brille und nimmt auf einem Stuhl Platz, der sich zwar drehen, aber nicht frei im Raum bewegen lässt. Mittels VR-Brille taucht man in eine 50-minütige 360-Grad-Filmumgebung ein. Das Publikum findet sich am Ufer des griechisch-türkischen Grenzflusses Mariza, dessen griechischer Name Evros lautet, wieder.

Daniel Kötter und Hannes Seidl, Foto: Jascha Sommer
FLUSS © Shafak

Die Landschaft wirkt karg und verlassen. 2015 sei dieser Ort ein wichtiger Teil der Flüchtlingsroute nach Europa gewesen, sagt Hannes Seidl. Mittlerweile sei der Fluss, der die Außengrenze der Europäischen Union markiert, streng bewacht. Die Betrachter erlebten keine wirkliche Handlung, sondern, so Seidl, „eine Meditation über den Ort“. So beobachtet man etwa einen Sonnenaufgang, nimmt Naturgeräusche wahr, sieht einen entlanglaufenden Schäferhund, entdeckt hier und dort Spuren der menschlichen Zivilisation. Es gehe um eine Erfahrung des Ausgesetztseins, betont Seidl.

Das etwa 70-minütige Stück „Stadt“, das 2017 im Berliner Theaterhaus „Sophiensæle“ Premiere feierte, setzt einen völlig anderen Akzent. Seidl spricht von einem „heterogenen Raum“, in dem sehr viel gleichzeitig passiere. Mit aufgesetzten elektromagnetischen Kopfhörern bewegt man sich durch eine Art Baustelle aus unzähligen Rigipswänden. Je nach eigenem Standort sind unterschiedliche Klangspuren zu hören. Dazu zählen Gespräche mit Stadtplanern, Diskussionen über Wohngenossenschaften, aber auch elektronische Live-Musik. Über den gesamten Raum verteilt ist zudem ein 360-Grad-Dokumentarfilm über die Hamburger Hafencity zu sehen. Nicht zufällig bezeichnet Seidl das Stück als „Reflexion über die durchkapitalisierte Idee von Stadtplanung“.

FLUSS © Elisa Limberg
STADT © Sophi­ensæle Berlin

Dokumentarisch ist auch die in „Land“ gezeigte Filmprojektion. Sie geht auf ein Experiment zurück: Im Frühsommer 2018 gründeten der Videokünstler Daniel Kötter und Hannes Seidl mit etwa 80 Weggefährten in der Nähe von Limburg eine temporäre Landkommune. Die Filmdialoge finden sich, zusammen mit fiktiven und realen Texten und Geschichten zum Thema „Land“, in einem Buch, das alle beim Betreten des Theatersaals erhalten.

„Es ist ein nicht vertontes Libretto dieses Stücks“, sagt Seidl. In „Land“ halte er sich am liebsten auf, bekennt er. Seidl hebt die Radikalität der fünfstündigen Dauer hervor. Überhaupt empfiehlt er, alle drei Produktion zu erleben – egal, in welcher Reihenfolge. Seidl weist auf die spürbaren Unterschiede in Zeiterfahrung und Mediennutzung hin. Es sei eine einmalige Gelegenheit, die Stücke als Ganzes zu erfahren. „Es ist die Erfahrung wert“, sagt Seidl mit Nachdruck.

STADT © Sophi­ensæle Berlin

STADT LAND FLUSS

14. bis 18. Januar 2020

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