Die Bild­er der Group of Seven zeigen eine ganz ­spe­zi­fi­sche Form von Geschichts­schrei­bung. Wie zeitgenössische Künstler*innen in Kanada heute damit umgehen und viel­fäl­tige Sicht­wei­sen auf die Identität des Landes eröffnen.

Betrachte ich heute ein Gemälde der Group of Seven, so stelle ich mir unwillkürlich die Frage: Was gehört da noch ins Bild? Was war für die Maler*innen der damaligen Zeit nicht sichtbar oder lesbar? Und was blieb in der Folge verdeckt oder ausgespart in historischen Zeugnissen, die das Leben im 20. Jahrhundert dokumentieren? Die Bildflächen beflügeln Tagträume von vorindustriellen, wilden, sauerstoffreichen Landschaften und werfen zugleich die Frage auf, wie ein und dieselben Landschaftsräume wohl von jenen dargestellt würden, die tiefere Wurzeln in ihnen haben, deren Vorfahren seit Jahrhunderten dort gelebt haben, die sie besser kennen als jede*r andere.

1876 wurde erstmals „Indian Act“ erlassen, ein immer wieder überarbeiteter Gesetzesentwurf, der bis heute die rechtliche Stellung der Indigenen Bevölkerung in Kanada regelt. In den 1920er-Jahren taten sich die sieben Maler der Group of Seven zusammen, um gemeinsame Interessen zu verfolgen – 90 Jahre nach Eröffnung der ersten „residential school“ und 75 Jahre vor Schließung des letzten Internats im Jahr 1996. Diese von der Regierung geförderten und von christlichen Kirchen geführten Schulen sollten Indigene Kinder an die westliche Lebensweise assimilieren, die die Siedler*innen aus Europa mitgebracht hatten. Den Jugendlichen nahm man ihre traditionelle Kleidung weg, sie wurden umbenannt, durften ihre Muttersprache nicht mehr sprechen, sahen sich weiteren Misshandlungen ausgesetzt. Angesichts von schätzungsweise 6.000 Kindern, die in diesen Internaten ihr Leben ließen, wird das Programm heute weitgehend als Genozid angesehen. Der groß angelegte Versuch, Indigene Sprachen und Spiritualitäten, Traditionen und Wissensformen auszulöschen, blieb keineswegs der einzige und wirft einen dunklen Schatten auf das Land, das heute Kanada genannt wird.

Die Bild­er beflü­geln Tagträume von vorin­dus­tri­el­len, wilden Land­schaf­ten

Es ist mittlerweile eine bekannte Beobachtung, dass die düstere Wahrnehmung einer ganzen Bevölkerung als umzuerziehende Menschen – ein entscheidender Aspekt der Kolonisierung – auch indirekt in den Gemälden der Group of Seven ihren Niederschlag fand. Sie spielten in den letzten hundert Jahren eine wichtige Rolle für die Herausbildung einer „nationalen Identität“, und dieser Stellenwert spiegelt sich in bedeutenden Museumssammlungen des Landes ebenso wieder wie in der Tatsache, dass Reproduktionen von ihnen gerne als preiswerte Wohndeko herhalten. Der lateinische Begriff terra nullius, wörtlich übersetzt „niemandes Land“, diente seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur zur Rechtfertigung vielfachen Landraubs in den ersten Jahrhunderten der Besiedlung, er wurde auch angewandt auf Bestrebungen, eine sogenannte nationale Identität zu begründen (so als geschähe dies im leeren Raum, aus dem Nichts heraus). In beiden Fällen wurde das Fehlen einer Bevölkerung unterstellt, obschon es hierfür doch lebende, atmende Gegenbeweise gab – die obendrein viele der Siedler*innen gelehrt hatten, wie man vom Land lebt.

J.E.H. MacDonald. Falls, Montreal River, 1920, Photo © Art Gallery of Ontario 2109
Tom Thomson Autumn's Garland, 1915-1916, National Gallery of Canada, Ottawa, Photo: NGC

Nehmen wir für einen Moment einmal an, dass alles, was je geschehen ist, in unser Bewusstsein einflöße (ob nun bewusst, unbewusst oder unterbewusst), oder folgen wir auch nur der Logik einer linearen kunsthistorischen Erzählung, so stehen sämtliche zeitgenössische Künstler*innen Kanadas, die sich dem Thema Landschaft widmen, eigentlich im Dialog mit der in Kanada omnipräsenten Werke der Group of Seven. So prägen diese noch bis heute die Auseinandersetzung mit Darstellungen von Landschaft und die damit einhergehende Identität des Landes und seinen Bewohner*innen. Dennoch: Zahlreiche dieser Künstler*innen, die zumindest in Grundzügen mit der postkolonialen Theorie vertraut sind, die die Medien verfolgen, die um den umstrittenen Begriff der „nationalen Identität“ ebenso wissen wie um die unbestreitbare Tatsache, dass die systemische Unterdrückung Indigenen Lebens bis heute andauert, operieren heute in direktem Widerspruch zur Vorstellung einer terra nullius.

Wie stellen zeitgenössische Künstler*innen Landschaft dar?

Hier kommt mir Sarah Anne Johnsons Woodland-Serie in den Sinn. Jedes der Werke beginnt als Aufnahme von Landschaften unweit ihres Hauses in Manitoba und wird von der Künstlerin anschließend mit Farbe, Blattmetall, holografischem Klebeband, Retuschetinte sowie Photoshop bearbeitet. „Ausgehend von wissenschaftlicher Forschung über die Fähigkeit von Bäumen, intelligent zu kommunizieren, von traditionellem Indigenen Wissen über die Natur und der Bedeutung alter Bäume für heilige Bezirke“, bevölkert Johnson auf elegante Weise das, was für das bloße Auge sichtbar ist, mit dem, was man nicht sieht. Die zu verschiedenen Jahres- und Tageszeiten entstandenen Aufnahmen bewaldeter Landstriche – wo es, wie wir wissen, vor Leben wimmelt –werden selektiv eingefärbt und bilden Indexstrukturen von hoher Komplexität. Daraus folgt eine faszinierende Aufladung der Bildmotive, ohne dass sich im Einzelnen festmachen ließe, worauf sie konkret verweisen.

Sarah Anne Johnson, EBJF, 2020, Courtesy: © Sarah Anne Johnson and Yossi Milo Gallery, New York, Image via www.frieze.com

Viele weitere Künstler*innen setzen sich offen mit Geschichten von Unrecht auseinander. Dies gilt etwa für Rebecca Belmores performative Arbeiten, die auf die unverhältnismäßig hohe Zahl vermisster und ermordeter Indigener Frauen sowie Mädchen aufmerksam machen, für Nadia Myres Einbeziehung Hunderter Familienmitglieder, Freunde wie auch Gleichgesinnterin Perlenarbeiten übertrugen, für Ange Lofts Kollaboration mit Jumblies Theatre and Arts, die sich Methoden der mündlichen Überlieferung bedient, um das Bewusstsein für Vertragsbrüche zu schärfen, und viele mehr. Weitere Künstler*innen wirken den Folgen der Auslöschung entgegen. So greifen etwa Dayna Danger, Olivia Whetung, Joi T. Arcand und Ursula Johnson traditionelle materielle Praktiken sowie Sprachen ihrer Vorfahren auf und nehmen immer wieder kritisch Bezug auf die Gegenwart.

Caroline Monnet, Lisa Jackson, Krista Belle Stewart befassen sich mit dem Pendeln zwischen der Herkunftsregion, Reservaten wie auch dem Leben in der Stadt und loten aus, auf welche Weisen sich Orte mit verkörperter Erinnerung, kulturellem Erbe und Identitätsstiftung verbinden. Ebenso gibt es beträchtliche Bemühungen, kartografische Grenzen zu hinterfragen – etwa in den Arbeiten von Robert Houle, Lauren Crazybull und Christi Belcourt –, wegzugehen vom kolonisatorischen Impetus der Besitzergreifung und der Ausbeutung von Ressourcen, hin zu einem Verständnis von Land, das auf Indigenen Rechtsansprüchen, auf Nutzung, Jahreszeiten und Migrationsmustern, auf Geschichten ebenso wie auf wechselseitigen Beziehungen gründet.

Rebecca Belmore, Fringe, 2008 © Rebecca Belmore, Image via ago.ca

Caroline Monnet, Transatlantic, 2018, Filmstill, © Caroline Monnet

Andere Künstler*innen verhandeln wiederum die aporetische Problematik öffentlicher Entschuldigungen. So begründeten AA Bronson und Adrian Stimson ihr Projekt „A Public Apology to Siksika Nation“ (2019), nachdem sie entdeckt hatten, dass Bronsons Urgroßvater als anglikanischer Missionar in derselben Nation tätig gewesen war, in der Stimsons Urgroßvater, ein Häuptling und Medizinmann, gelebt hatte. Folgt man dem Künstler, Schriftsteller und Professor David Garneau, so besteht Indigene Kunst (in Abgrenzung gegenüber der „Gewohnheitskultur“ und der sogenannten „Aboriginal art“) in einer Art drittem Raum: Ihren Ursprung habe sie in Indigenen- ebenso wie Siedlerkulturen, wolle „aber weder gänzlich traditionell noch kolonisiert sein“. Das Kunstwerk konstituiere „souveräne Orte innerhalb von Siedlerterritorien“, wo „das Indigene als Phänomene der Gegenwart performed, kritisiert, produziert und reproduziert wird“. 

Man sieht eine hoch­spe­zi­fi­sche Form von Geschichts­schrei­bung am Werk

Betrachtet man kanadische Landschaftsansichten der Group of Seven heute, so sieht man dort eine hochspezifische Form von Geschichtsschreibung am Werk – eine akkurate Darstellung wäre niemals so vorgeprägt, so überhöht und ansprechend für das Auge. Kunst spiegelt immer auch die Perspektiven der jeweiligen Zeit spiegelt, so vertreten zeitgenössische Künstler*innen heutemeist konträr geprägte Vorstellungen von Land, wodurch sich vielfältige Sichtweisen eröffnen und (gleichwohl bewusst) zu einer reicheren, repräsentativen nationalen Identität beitragen.

A PUBLIC APOLOGY TO SIKSIKA NATION by AA Bronson and IINI SOOKUMAPII: GUESS WHO’S COMING TO DINNER? by Adrian Stimson as part of TORONTO BIENNIAL OF ART Photo: Samuel Engelking, Image via rosemheather.com

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