1976 entsteht in Düsseldorf die erste Fotoklasse an einer deutschen Kunstakademie. Mit ihrem nüchtern-sachlichen Stil prägen Bernd und Hilla Becher ihre Schüler wie Andreas Gursky, Candida Höfer oder Thomas Ruff. Eine Schau im Städel zeigt nun das Frühwerk der Foto-Stars aus der Becher-Klasse.

Solingen-Gräfrath, Oberhaaner Straße. Heiligenhaus, Breiter Weg – Dieselstraße. Wuppertal-Sonnborn, Flieth – Gustav-Freitag-Platz. Volker Döhne hat genau protokoliert, wo seine Bilder entstanden sind. Mit Bleistift hat er die Ortsangaben unter den Fotografien vermerkt. Zu sehen sind Unterführungen und Bahnbrücken. Menschenleer, in Schwarzweiß. Triste, vergessene Orte, besser: Unorte.

Die Bilder sind nüchtern aufgenommen, aus der Distanz. Und sie zeigen, genauso wie die Straßenzüge von Thomas Struth oder die von Tata Ronkholz fotografierten Trinkhallen, die im gleichen Raum hängen, warum es so richtig ist, von einer Becher-Schule zu sprechen. Denn Ronkholz, Döhne, Struth und all die anderen, die in der Klasse von Bernd und Hilla Becher waren, haben von ihren Mentoren – besonders in den ersten Jahren – einen fotografischen Stil tatsächlich ganz wortwörtlich erlernt. So wurde die Becher-Schule zum Markenzeichen.

Sachlicher Blick

Frontal, sachlich, mit mikroskopischem Blick fürs Detail und immer in Schwarzweiß: So haben die Bechers fotografiert. Die Motive ihrer Serien waren zunächst Fachwerkhäuser, bald aber ausschließlich Industriebauten: Fördertürme, Hochöfen, Fabriken, Gasometer, Getreidesilos. Die Bechers haben diese Gebäude abgebildet, eingefangen, sie haben die verschwindende Industriekultur in ihren Bildern festgehalten.

Bernd (1931–2007) und Hilla Becher (1934–2015) Fachwerkhäuser, 1959-61 / 1974 Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, 152,4 x 112,5 cm Sammlung Deutsche Bank © Estate Bernd & Hilla Becher

Die Fotoserien der Bechers waren immer zuerst Dokumentationen, eine Form der Erinnerung. Im Städel Museum kann man nun entdecken, wie sehr ihre Bildsprache die ersten künstlerischen Arbeiten ihrer Schüler geprägt hat, wie diese Art des Fotografierens, der sachliche Blick auf die Wirklichkeit, ihre Schüler zu einer Klasse, einer Gruppe, gemacht hat. „Fotografien werden Bilder“ heißt die Ausstellung, Martin Engler, Sammlungsleiter für Gegenwartskunst am Städel, hat sie kuratiert. Ein Großteil der ausgestellten Werke stammt aus den späten 1970er- und den 1980er-Jahren, die jüngsten Bilder in der Schau sind um die Jahrtausendwende entstanden.

Prägend, nicht autoritär

Im Foyer zu der Ausstellung läuft ein Video, das Ausschnitte aus Interviews mit einigen der Becher-Schüler zeigt. Darin erzählt Volker Döhne davon, wie er Bernd Becher einmal Bilder präsentierte, die er in Farbe und nicht wie üblich in Schwarzweiß aufgenommen hatte. Becher riet ihm dringend davon ab, weiter in Farbe zu fotografieren, aber Döhne widersetzte sich der Anweisung – und erntete später viel Lob für seine neuen, bunten Bilderserien. „Das Gute an der Klasse war, dass wir Bernd Becher in dem Sinne nie als Lehrer wahrgenommen haben“, sagt die Künstlerin Candida Höfer in dem Video. Die Bechers waren prägend, ohne autoritär zu sein.

Volker Döhne (*1953) Ohne Titel (Bunt), 1979 (2014) Farbabzug nach Diapositiv, 37 x 47 cm Privatsammlung © Volker Döhne, Krefeld 2017
Axel Hütte (*1951) Castellina, 1992 (2015) Chromogener Farbabzug, 98,4 x 120,3 cm DZ BANK Kunstsammlung © Axel Hütte

1976 wurde Bernd Becher, der Sohn eines Siegener Dekorationsmalers, der in Stuttgart freie Grafik und in Düsseldorf Typographie studiert hatte, als Professor für Fotografie an die Düsseldorfer Akademie berufen. Seine Schüler bildeten die erste Fotoklasse an einer deutschen Kunsthochschule überhaupt. Und auch wenn Bechers Frau Hilla, die das Fotografieren im bekannten Potsdamer Fotoatelier von Walter Eichgrün gelernt hatte, selbst dort keine Professur innehatte, gestalteten sie den Unterricht doch immer gemeinsam.

Perfektionierte Wimmelbilder

Viele, die bei den Bechers studiert haben, sind heute Stars der Fotokunst: Candida Höfer, Andreas Gursky, Thomas Struth, Jörg Sasse, Axel Hütte, Thomas Ruff. Ihre Werke stehen auch für den Moment, an dem sich die Fotografie aus dem Stigma Gebrauchskunst befreite, für den Augenblick, als, wie der Titel der Schau es so treffend beschreibt, aus Fotos Bilder (und aus Fotografen Künstler) wurden. All diese Künstler sind in der Ausstellung mit Schlüsselwerken vertreten.

Thomas Ruff (*1958) Porträt (G. Benzenberg), 1985 Chromogener Farbabzug, 41 x 33 cm Leihgabe des Künstlers © Thomas Ruff; VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Und so sieht man dort nun die weltberühmten, wimmelbildhaften Montagen von Andreas Gursky, die passbildhaften Porträtserien von Axel Hütte und Thomas Ruff, die einen an August Sander denken lassen, die rätselhaften und knallbunten Objektbilder von Jörg Sasse – und entdeckt eine verbindende Strenge, die Begeisterung für die Präzision. In den 1990er-Jahren werden einige dieser Becher-Schüler dann beginnen, ihre Bilder mit Hilfe digitaler Bildbearbeitungsprogramme weiter zu „perfektionieren“.

Bilder aus der Gastarbeiterwelt

Sehr außergewöhnlich ist eine Fotoserie, die die für ihre monumentalen, menschenleeren Bilder von Bibliotheken bekannte Candida Höfer von einer ungewohnten Seite zeigt: als Reporterin. „Türken in Deutschland“ hat Höfer die Reihe, die 1979 entstand und die im Städel in einer Dia-Schau präsentiert wird, genannt. Die Fotografin gibt darin intime Einblicke in die – für den Großteil der deutschen Bevölkerung damals noch völlig fremde – „Gastarbeiter“-Welt. Sie porträtiert Familien in ihren Wohnungen oder im Park, die kartenspielenden Männer in den Teestuben, die Kulturvereine und Lebensmittelgeschäfte der Migranten. Doch auch in der Reportage bleibt Höfer sachlich. Denen, die sie porträtiert, rückt sie – anders als die meisten Fotoreporter – nie auf den Leib.

Candida Höfer (*1944) Weidengasse Köln VIII 1977, 1977 (2013) Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, 42,6 x 36,7 cm Leihgabe der Künstlerin © Candida Höfer, Köln; VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Thomas Struth (*1954) West 21st Street, Chelsea, New York, 1978 (1987) Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, 66 x 84 cm DZ BANK Kunstsammlung im Städel Museum © Thomas Struth

Zu entdecken sind aber auch Künstler, die bislang nicht so sehr im Fokus standen: der schon erwähnte Volker Döhne, die 1997 verstorbene Tata Ronkholz, die klassische Industriekultur-Bilder schuf, aber auch verspielte Schaufensterdetails, oder Petra Wunderlich, die den Blick auf Mauerwerk und Steinbrüche legt und diese Orte in außergewöhnlichen Bildausschnitten festhält. Ihre Bilder sind nicht weniger beeindruckend als die der Stars der Becher-Schule.

Ausstellungsansicht "Fotografien werden Bilder. Die Becher-Klasse" Foto: Städel Museum