Von Selbst­dar­stel­lun­gen und rätselhaften Foto­mon­ta­gen bis hin zu Kriegs- und Mode­strecken. Warum die Fotografie ein so entscheidendes Medium für die Surrealistinnen war.

Im Surrealismus und seiner Nachfolge erlebte die Fotografie eine wohl intensivere Blüte als in jeder anderen Avantgardebewegung. Und die Fotografinnen waren ganz vorne mit dabei, wenn es um das Experimentieren mit dem Medium und dessen Weiterentwicklung ging. 

In der Ausstellung Fantastische Frauen zeigt sich die stilistische, internationale und historische Bandbreite der surrealistischen Fotografie: Sie reicht von den unheimlichen, flaneuresken Bilder von Lola Álvarez Bravo über die Inszenierungen und Selbstdarstellungen der Künstler*innen Claude Cahun und Marcel Moore bis hin zu den Fotomontagen Dora Maars oder der Kriegs- und Modefotografie von Lee Miller. Sie alle weisen radikal unterschiedliche Ausprägungen der surrealistischen Ästhetik auf. 

Zufälle führen zu ungeahnten Ergebnissen

Das Zusammenkommen von Automatismus und Agieren in der Fotografie – die mechanischen und chemischen Reaktionen der Lichtschreibung, die in dem kurzen Moment zwischen dem Drücken des Auslösers und der Einwirkung des Lichts auf den Film ablaufen, und die anschließenden Möglichkeiten der Veränderung durch Entwicklungs- und Ausbelichtungsprozesse – trugen zu der hervorragenden Eignung des Mediums für die surrealistische Kunst bei. In den wenigen Sekunden, in denen menschliches Handeln und automatische Abläufe der Kamera zusammenfallen, kann sich Kreativität ganz unbewusst, mit unvorhersehbaren Folgen, entwickeln. 

Lola Álvarez Bravo Sirenas del aire (Sirenen der Lüfte), um 1935/36 © Privatsammlung, Courtesy GALERÍA ENRIQUE GUERRERO

In diesem Potenzial für produktive und zufällige Ereignisse liegt ein wesentlicher Antrieb für das surrealistische Interesse an der Fotografie. Es erweist sich etwa in der gemeinsamen Erfindung der Solarisation durch Lee Miller und ihren Partner Man Ray in dem Augenblick, als Miller versehentlich das Licht in der Dunkelkammer einschaltete, während Ray gerade Fotos entwickelte. 

Fotografie ermöglicht den Zugang zum Unbewussten

Die dem Medium innewohnende Zufallsdimension bot ebenso reiches Material für die surrealistische Kunst wie die Tragbarkeit der Kamera. Sie ermöglichte die Aufnahme zufälliger Alltagsbegegnungen und offenbarte unbewusste Wirklichkeiten, in denen das Ausgesonderte, Beschädigte oder Unbeachtete wiederbelebt wurden und neue Bedeutung erlangten. Etwa in Millers Kriegsaufnahme einer zertrümmerten Remington-Schreibmaschine (1940) als Opfer der deutschen Luftangriffe auf Großbritannien. Oder in Álvarez Bravos verblüffender Kombination einer Schaufensterpuppe und einer Autokarosserie in „Vogelschau“ (1950er-Jahre). Sie boten genau die Art poetischer Nebeneinanderstellung, die von den Surrealisten gefeiert wurde als „zufälliges Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“, das der französische Dichter Comte de Lautréamont in einem Vers seiner „Gesänge des Maldoror“ (1869) beschrieben hatte.

Lola Álvarez Bravo Untitled (Bird’s Eye View) – (Ohne Titel [Vogelschau] ), 1950er-Jahre © Center for Creative Photography, The University of Arizona Foundation

Solche Zufälle stören in Arbeiten von Fotograf*innen oft die glatten Oberflächen von Ideologien und Traditionen, demontieren Verbindungen und Zusammenhänge zwischen dem Alltäglichen und der Gewalt des Patriarchats. Claude Cahun konstatiert 1936 in ihrem Essay „Vorsicht vor häuslichen Gegenständen“: „(...) ringsherum gerät unsere heutige Lebenswelt aus den Fugen (...).“. Die Zertrümmerung des Gewohnten bricht sich etwa Bahn in Aufnahmen der tschechischen Fotografin Emila Medková, die Brüchen nachspürt, von zerborstenen Glasscheiben bis hin zu Rissen in der Wand, die zu befremdlichen Gesichtern und Landschaften mutieren. Medkovás Werk „Upravíme váš účes“ (Wir richten Ihnen die Frisur) (um 1950/55) verwandelt ein gesprungenes Schaufenster in eine Szene dynamischer Bedeutungen.

rings­herum gerät unsere heutige Lebens­welt aus den Fugen (...)

Claude Cahun

Über den gesprungenen Werbespruch, der sich auf Prozeduren weiblicher Körperpflege bezieht, spielt Medková humorvoll mit dem Begriff „Haarrisse“ (auf Tschechisch „vlasové trhliny“). Der Spruch beinhaltet aber auch dunklere politische Botschaften im Sinne eines „Sich-Herrichtens“ gemäß dem makellosen und verdinglichten, auf Konsumierbarkeit hin angelegten Bild von Weiblichkeit. Hier wird es in den spezifischen Kontext des kommunistischen autoritären Regimes der damaligen Tschechoslowakei gerückt – eines Regimes, das sich sowohl gegen die Rechte der Frauen wie auch gegen Avantgardekünstler wandte. Das Intim-Persönliche wird politisch, wird zurückgeworfen auf die Fotografin selbst. Deren Spiegelbild erscheint verzerrt im Schaufenster, das sich bis an die Bildränder ausweitet, während an Stelle von Medkovás Kopf zufällig verlaufende Sprünge treten, die entfesselten Haaren gleichen. 

Das Intim-Persön­li­che wird poli­tisch

Auf ähnliche Art und Weise, doch in einem anderen politischen Kontext, erkundet Millers Werk „Ohne Titel“ (Explodierende Hand) (um 1931), das in der Parfümerie Guerlain in Paris aufgenommen wurde, kommerzialisierte und als Ware verstandene weibliche Schönheit. Die Frauenhand weist auf Kratzer im spiegelnden Glas der Ladentür, ähnlich wie Caravaggios Thomas seine Finger in die Wunde Christi legt. Die Kratzer auf der Glastür bringen Unvollkommenheiten in die Repräsentation kommerzialisierter Weiblichkeit und stören die Makellosigkeit der gläsernen Scheibe.

Emila Medková Upravíme váš účes (Wir richten Ihnen die Frisur), um 1950/55 © Eva Kosáková Medková

Eine andere Art unbeabsichtigten, aber produktiven Schaden finden wir in Dora Maars Foto der Künstlerin Leonor Fini. Die Aufnahme von 1936 reiht sich in eine lange Tradition im Surrealismus ein, bei der Frauen einander fotografierten und sich gegenseitig als Künstlerinnen festhielten – eine politische Arbeit, mit der sie gegen die wiederkehrende Konstruktion männlicher Künstler und Kunsthistoriker zu anhielten, die Künstlerinnen als zweitrangig betrachteten. 

Dora Maar ironi­siert die Objek­ti­vie­rung von Frauen

Auf dem Foto verweist die Katze zwischen Finis Beinen unverkennbar auf das weibliche Geschlechtsteil („la chatte“) und ironisiert die Sexualisierung und Objektivierung von Frauen. Gleich einem Memento mori schreiben zwei auffällige Laufmaschen im rechten Strumpf den Bruch mit dem vom Patriarchat geforderten, makellosen weiblichen Erscheinungsbild ein. Diese Sondierung von Rissen und Bruchstellen zeigen die Möglichkeiten auf, die die Fotografie dem Surrealismus bot: seinem Bestreben, mit gewohnten Lebensentwürfen zu brechen, Räume für politische Kritik sowie für alternative Welten und Identitäten zu eröffnen. Mit ihrer Fähigkeit, die Wirklichkeit darzustellen und zugleich zu hinterfragen, gab die Fotografie vor allem Künstlerinnen neue Werkzeuge an die Hand, um herkömmliche Konstruktionen von Weiblichkeit infrage zu stellen.

Dora Maar, Léonor Fini, 1936 © Jacques Faujour - Centre Pompidou, MNAM-CCI /Dist. RMN-GP © Adagp, Paris, Image via www.centrepompidou.fr

FANTASTISCHE FRAUEN

SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO

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