Kurator Matthias Ulrich hört in London Queen-Hymnen im Pub, trinkt Bier ohne Krone und begegnet schließlich Freddie Mercury auf der Damentoilette.

Anlässlich einer Ausstellung des amerikanischen Künstlers Peter Coffin reiste ich nach London. Erstmals aufmerksam geworden bin ich auf ihn durch ein Gewächshaus, das er im Jahr 2002 in seiner New Yorker Galerie, Andrew Kreps, ausgestellt hat. Neben Pflanzen befanden sich darin Musikinstrumente, auf denen zahlreiche Bands Konzerte gegeben haben, als würden sie mit der Musik das Wachstum der Pflanzen beeinflussen wollen. Vor einem Jahr waren wir in der SCHIRN kurz davor, eine seiner bisher aufwändigsten Arbeiten während der Langen Nacht der Museen zu zeigen, mussten das Projekt allerdings aus Sicherheitsgründen auf Eis legen. Es handelte sich um ein von einem Helikopter gehaltenes UFO, das mit einer diskomäßigen Lichtanlage über unsere Köpfe hinweg geflogen wäre. Zusammen mit dem Sammler Carl Kostyal und in dessen leer geräumtem Büro in der Savile Row zeigt Coffins Londoner Galerie, Herald St, nun also neue Arbeiten des zumindest bei Wikipedia als Neffe von Robert Smithson firmierenden Künstlers aus New York.

Mit hoch gereckter Faust

Vor der Eröffnung am Montag traf ich allerdings in dem Südlondoner Pub „The George and Dragon“ am Sonntagabend auf Aleksandra Mir, die für ihre Installation „Triumph“, 2008 für die SCHIRN produziert und dort ausgestellt, nach wie vor einen geeigneten Ort in London sucht, um sie zur Olympiade zeigen zu können. Doch heute Abend geht es nicht um Pokale, sondern um einen Sänger, dessen Statue Aleksandra aus dem Schweizer Montreux nach London bringen will. Wer dort mit hoch gereckter Faust und dem Mikrofonständer in der anderen Hand auf den Genfer See hinab blickt, ist der in Sansibar (Tansania) geborene Freddie Mercury, der den größten Teil seines Lebens in England verbracht hat. Der Ort, an dem der 1991 an AIDS gestorbene Sänger der Band Queen nach Mirs Vorstellung stehen soll, ist der leere Sockel am Trafalgar Square, wo seit 2005 unter der Schirmherrschaft des Londoner Bürgermeisters im ein- oder zweijährlichen Wechsel extra angefertigte Kunstwerke installiert werden. Unter dem Titel „The Fourth Plinth“ sind bereits Arbeiten zu sehen gewesen von Marc Quinn, Thomas Schütte, Antony Gormley und Yinka Shonibare. Ganz neu ist eine güldene Schaukelpferdskulptur von Elmgreen & Dragset.

Das englische Bier

Wer also will, dass schon im nächsten Jahr Freddie in London weilt, der unterschreibe die Petition, die auf der Homepage zu finden ist. Zudem findet sich dort auch ein interessantes Interview mit der tschechischen Bildhauerin Irena Sedlecka, die nicht nur Freddie in Stein gemeißelt hat. Der Ausstellungsraum im „The George and Dragon“ ist das Frauenklo, und Aleksandra hat dort ihr Freddie-Projekt plakatiert sowie eine kleine Freddie-Skulptur auf einen Wandsockel montiert. Zur heutigen Eröffnung bekommt das englische Bier dennoch keine Krone. Aus den Boxen dröhnen die Hymnen von Queen, später abgelöst von weiteren Hymnen des 80er-Jahre Pop. Als ich kurz vor Mitternacht die Tube betrete, sind die Züge bereits zuhause. Taxis fahren noch.

Eine Entdeckung namens Otto

Am nächsten Tag laufe ich an der Menschenschlange vor der Royal Academy of Art vorbei, zücke am fast-track Schalter eine ICOM-Karte und begebe mich in die Landschaftsmalereien von David Hockney. Bis auf die knalligen Farben der Bäume, Wiesen und Wege und einigen auf dem iPad gemalten Bildern bin ich bald schon gelangweilt von den Raum für Raum chronologisch verteilten Gemälden. Ein Freund von mir, mit dem ich kurz zuvor die Claude Lorrain-Ausstellung im Frankfurter Städel gesehen hatte, wäre dagegen nicht nur wegen der von Hockney in verschiedenen Variationen interpretierten „Bergpredigt“ von Lorrain begeistert gewesen. Inspiriert von der Ausstellung durchwandere ich anschließend den Hyde Park, um nach einer guten halben Stunde die Serpentine Gallery zu betreten. Dort finde ich gleich Halt an den ausgestellten Exponaten der brasilianischen Künstlerin Lygia Pape, deren hinterlassenes Werk sehr unterschiedlich ist, sehr ernsthafte aber auch spielerische und exzentrische Anteile hat. Die flächigen und räumlichen Wahrnehmungsexperimente, die sie mit einfachen Mitteln auf beeindruckende Bildmetamorphosen oder simple Architekturstudien anwendet, sind verblüffend wie angenehm zurückhaltend zugleich. Die 365 Variationen des immer gleichen Quadrats wirken keinesfalls ironisch, dennoch beherrscht und weitaus lustvoller als etwa die strengen Kalenderblätter von On Kawara. Die größte Arbeit dieser Retrospektive ist die schon auf der 53. Venedig Biennale 2009 spektakulär ins Auge gefallene Installation eines aus Hunderten goldener lotrecht und diagonal gespannter Fäden angedeuteten Volumens, dessen Zerbrechlichkeit so respektvoll die Bewegungen im Raum dirigiert und den Raum hinter seine Vektoren zurückzudrängen vermag wie kaum eine dekonstruktivistische Architektur davor und danach. Im Buchladen der Serpentine stoße ich auf eine Entdeckung namens Otto Friedrich Bollnow und seinem 1965 erschienenen Buchtitel „Mensch und Raum“.

Die Hände von Sigmund Freud und Aldous Huxley

Wenn auch mehr als erwähnenswert, übergehe ich an dieser Stelle die Ausstellungen in der Hayward Gallery von David Shrigley und die von Yayoi Kusama in der Tate Modern. Während einer kurzen Visite bei Roughtrade auf dem Gelände der ehemaligen Old Truman Brewery entdecke ich die “Platte des Jahres 2011“ eines gewissen Josh T. Pearson mit beeindruckendem Vollbart. Eine Bonus-CD mit Weihnachtsliedern vervollständigt das Angebot für 10,99 £ – für denselben Preis gibt es die CD von Josh auch ohne Weihnachtslieder. Schwierige Entscheidung, die beim ersten Pint des Tages in Tracey Emins nahe gelegenem Lieblingspub „The Golden Heart“, wo mich ein „junger Sammler“ aus Wien hingeführt hat, durchdacht wird. Eine riesige Plastiktüte, getragen von einem „jungen Galeristen“, landet schließlich auf unserem Schulbank-großen Tisch und offenbart die von einem „jungen Künstler“ signierten Reste des in diesem Pub einst gestandenen Klaviers, auf dem bereits die Hände von Sigmund Freud und Aldous Huxley, so der geschäftstüchtige Galerist, Berührungen vorgenommen hätten. 1 £ pro Stück, die Tastatur ist leider schon verkauft, nehme ich mir drei gleiche Elemente, irgendwelches geformtes Holz, das für jeden Kenner eindeutig als Wippe oder als Vibrationsdämpfer bekannt ist. Noch ein Bier und wir sind bereit für die Savile Row.

Ein menschenähnlicher, dicht behaarter Mann

Ein Haus neben dem gesuchten in besagter Savile Row wird gerade ein Tatort gedreht, jedenfalls jede Menge schwarze Schirme und viel Lux, Kabel und ein offener Transporter sowie Menschen, die sonst nur auf Rockbühnen die Instrumente aufbauen oder meterhoch tonnenschwere Boxen anbringen. Es ist keine Installation von Peter Coffin, ich bin ein wenig enttäuscht und laufe im Nachbarhaus mit meinen Vibrationsdämpfern in der Tasche, die wie Lauchstangen aus dem Baumwollsackerl lugen, die Treppe hoch. In zwei Zimmern, die normalerweise die Büroräume von Mr. Kostyal sind, hat Peter drei Arbeiten platziert, zwei ältere und eine neue. Die neue, eine Wachsfigur eines menschenähnlichen, dicht behaarten Mannes, bauchseits auf einer Massagebank liegend, den Kopf in einer gepolsterten runden Halterung eingeklemmt, ein weißes Frotteetuch über das ebenfalls haarige Hinterteil gewölbt, steht alleine mitten im Raum, der mit hell aufgehobeltem Holz getäfelt ist und mit seinem Kamin irgendwie gemütlich und friedlich wirkt. Großes Kino.

Peter Coffin, Untitled (Prelapsarian), 2012; Carl Kostyal & Herald St, London; photograph Matthias Ulrich