Ekkehard Tanner führt seit 2008 durch die Ausstellungen der SCHIRN. Warum Führungen durch die Ausstellung „Gabríela Friðriksdóttir. Crepusculum“ so ungewöhnlich sind, berichtet er im SCHIRN MAG.

Während die Teilnehmer einer öffentlichen Führung im Regelfall zu Beginn eher zurückhaltend sind, verhalten sie sich bei „Gabríela Friðriksdóttir. Crepusculum“ ganz anders. Zunächst muß sich das Auge ein wenig an die Dunkelheit gewöhnen, dann verraten fragende Blicke die Befürchtung mancher Besucher: eine Ausstellung die nur einen Raum einnimmt und ein Werk zeigt ist vielleicht doch etwas klein?

Doch nicht so hastig! Ein Raum im Halbdunkel, aus vier Lautsprechern trägt eine Männerstimme ein Gedicht der Künstlerin vor. „Was bitte heißt Crepusculum?“, fragt leise ein Mann mittleren Alters. „Crepusculum, im Französischen Crépuscule, zu Deutsch etwa Abenddämmerung. Der Zustand der Veränderung, der Mittler zwischen Tag und Nacht.“ Ich musste einen Schnellkurs in Isländischer Literatur machen, denn diese Ausstellung ist auch, wie ein belesener Herr mit schütterem weißem Haar treffend bemerkte, „die ungewöhnlichste Buchpräsentation die ich je gesehen habe“. Acht jahrhundertealte Manuskripte zeugen von der frühen Bedeutung des Buches in Island.

Ihr Gesicht beginnt zu leuchten

Als ich einer kleinen Gruppe, die gerade eine Pause auf der Buchmesse einlegte, mein Wissen über die Handschriften mitteile, gesellt sich eine ältere Dame zu unserer Gruppe und beginnt zu erzählen: Warum eines der Bücher zwei angeschnittene Seiten habe, liege daran, dass die Menschen in Island damals so arm waren, dass sie das Pergament wiederverwendet hätten. Etwa um Segel zu flicken oder um Fenster abzudichten. Die Bücher befanden sich in Bauernhöfen und nicht in Kirchen und Klöstern wie in Kontinentaleuropa. Ihr Gesicht beginnt zu leuchten. Und dann liest sie uns vor und erklärt uns einzelne Buchstaben. Ja, sie sei Isländerin, und natürlich könne sie die alten Schriften lesen, die Sprache habe sich fast nicht verändert.

Wenn er nach zehn Jahren noch lebte, war er ein freier Mann

Während einer anderen Führung kommt eine elegant gekleidete Frau ins Schwärmen. In Island, da sei sie schon mindestens 17- oder 18-mal gewesen. Ein magisches Land sei es. „Das Land ist voll von Sagas, warum also nicht die Manuskripte als Skulptur in die Landschaft einbauen, wie Gabríela es tut? Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer weiten Ebene, alles ist ruhig. Dann fängt es an zu schnarchen, als läge unter der Erde ein Riese. Eine Blase bildet sich und plötzlich steigt ein Geysir in den Himmel.“ Auch der Sand sei typisch isländisch. „Im Inneren besteht die Insel ja nur aus Vulkanen und Wüsten. Wenn einer im Mittelalter zu Tode verurteilt wurde, hat man ihn in die Wüste geschickt. Und wenn er nach zehn Jahren noch lebte, war er ein freier Mann.“

„Aber in Island ist der Sand doch schwarz?“, fragt ein Jugendlicher. „In der Regel schon, aber in den Westfjorden gibt es einen weiten Strand mit solch hellem Sand wie hier in Friðriksdóttirs Installation“, erklärt eine Mitdreißigerin, die noch ihr Namensschild von der Buchmesse trägt. „Und da hat Friðriksdóttir auch Teile ihres Films gedreht.“ Eine Mutter hält an einem anderen Tag ihr Kind davon ab in den hellen Sandhaufen zu steigen. „Besonders die animierten Zeichnungen machen Lust hineinzulangen“, sagt eine junge Juristin während einer Firmenführung. „Und wenn man die Zeichnungen lange genug ansieht, fängt man an zu begreifen. Die Figuren scheinen selbst wie aus Sand zusammengesetzt.“

Wir werden zu Tänzern

„Warum ist das denn gerade so laut hier?“, fragt anderntags eine ältere Dame streng. „Gehen wir doch weiter“, sage ich, „immer wenn der Ton unter einem der Lautsprecher laut ist, ist es unter einem der anderen leise.“ So bewegen sich die Besucher von einer Ecke zur anderen. Und dieses Erlaufen der Installation gehört mit zum Werk. Wir werden zu Tänzern in einer uns unbekannten Choreografie. Wir betrachten und hören und schweigen und lassen den Gedanken freien Lauf.

Ich verliere meinen roten Faden

Lesen und Schreiben ist für die Isländer sehr wichtig, nicht umsonst ist Reykjavik von der UNESCO zur Stadt der Literatur gewählt worden. „In Deutschland gibt es einen jährlichen Pro-Kopf-Konsum von etwas mehr als einem Buch. Was glauben Sie, wie es sich in Island verhält?“, frage ich an einem Abend. „Acht, in Island sind es acht Bücher, die pro Einwohner im Jahr gekauft werden“, sagt eine blonde Frau mit ungewöhnlichem Haarschnitt. Ich verliere meinen roten Faden. Gabríela, Friedrichs Tochter. Ich beschließe die Künstlerin nicht zur enttarnen. Als Gabríela Friðriksdóttir später den Raum verlässt, huscht ein Lächeln über ihre Lippen.

Wenn man gepackt wird vom Friðriksdóttir-Universum und der Zauber der Installation anfängt zu wirken, möchte man sie mehrmals sehen, wie mir öfters gesagt wurde. In der Rotunde vor der Schirn treffe ich einen Besucher, der gerne die öffentlichen Führungen aufsucht: „Die Ausstellung hat mir gefallen. Aber es dauert seine Zeit, sie sich zu erschließen.“