Alexis Vaillant und Cristina Ricupero, Kuratoren der Ausstellung „Geheimgesellschaften“, im Gespräch über Wikileaks, Andy Warhol und Geheimbünde.

Könnt Ihr das Geheimnis lüften, was hinter der Ausstellung „Geheimgesellschaften“ steckt?

Cristina Ricupero: Geheimwissen, das nur durch das Geheimnis geschützt wird. Geheime Meister, die niemand kennt. Unsichtbare Mächte. Niemand weiß, wer die Fäden zieht. Rituale und Zeremonien – Geheimgesellschaften waren geradezu versessen auf Rituale – man musste oft brutale Initiationen über sich ergehen lassen und dadurch zu jemand anderem werden, einen anderen Geisteszustand erreichen oder eine andere Dimension (lacht). Das sind die roten Fäden, die sich durch „Geheimgesellschaften“ ziehen.

Klingt nicht sehr vertrauenserweckend.

Alexis Vaillant: Wer etwas über die Ausstellung erfahren möchte, sollte sie sich ansehen. Darüber hinaus haben wir im Katalog einen Text veröffentlicht, der sicher zum Verständnis beiträgt. Der Katalog als solcher ist eine Art „Best of” der Geheimgesellschaften: Wie sie sich historisch gebildet haben, wie sie als Machtinstrument oder Vision einer Gesellschaft funktioniert haben, und was man heute über sie aussagen kann. Der Audioguide arbeitet auf einer anderen Erklärungsebene.

Was hat es mit dem Audioguide auf sich?

Alexis: Hier erlebt man eine kritische Auseinandersetzung mit den Geheimgesellschaften in Bezug zur Gesellschaft als solcher – zur Mediengesellschaft, die unsere Realität bestimmt. Gary Lachman war eine wichtige Inspirationsquelle: Er hat mehrere Bücher über das Okkulte veröffentlicht. Seine kurze Geschichte der Geheimgesellschaften haben wir in den Audioguide aufgenommen, weil er sehr gut die Themen und Strukturen der Geheimgesellschaften erläutert. Es ist kein klassischer Audioguide, in dem die Kunstwerke erklärt werden, während man durch die Ausstellung geht. Es geht eher um die Fakten. Mit diesen Informationen können die Besucher verschiedene Facetten der Ausstellung besser wahrnehmen.

Wie ist die Ausstellung konzipiert?

Alexis: Die Ausstellung funktioniert wie ein experimenteller Raum: jeder Besucher wird in die Show involviert, sobald er sich durch die Kunstwerke damit auseinandersetzt, wie es ist, ein Geheimnis zu hüten oder zu lüften. Wir laden jeden ein, zu kommen und es selbst zu erleben. Das ist nicht einfach „sehen und lernen“, sondern „sehen und etwas über sich selbst lernen“: über das eigene Verhältnis zu Geheimnissen. Die Ausstellung beschäftigt sich auch mit zeitgenössischen Ideen wie Transparenz – und Wikileaks.

Cristina: In der Ausstellung geht es um die Offenlegung von Kommunikation und Informationen – den Geheimgesellschaften geht es darum, dagegen Widerstand zu leisten. Wie in den Geheimbünden auch haben wir versucht, eine Art Initiationsritus zu kreieren. Der Künstler Fabian Marti schafft es durch seine Ausstellungsarchitektur, Informationen zu verhüllen – und gleichzeitig die Besucher mit den nötigen Informationen zu versorgen – wobei es bei Geheimnissen nicht immer nur um Informationen geht. Uns geht es auch um das Paradox des Geheimnisses: Gleichzeitig ent- und verhüllt es. Wie kann man das Unsichtbare sichtbar machen? Warum Geheimnisse öffentlich machen? Die Ausstellung stellt Fragen und heizt unsere Vorstellungskraft und Neugier eher an, als dass sie sich der Geschichte der Geheimgesellschaften auf ethnographische Art nähert. So etwas könnte eine weitere Ausstellung leisten, Material gibt es genug!

Was hat es mit Wikileaks auf sich?

Alexis: Wikileaks hat gezeigt, dass Geheimnisse nicht mehr versteckt werden können. Sie kommen ans Tageslicht. Transparente und verstecke Sphären haben heute einiges gemeinsam. Geheimnisse sind so transparent, dass man sie nicht mehr wahrnimmt. Damit zeigt sich ein ganz neues Verständnis, wie politische Verhandlungen und ökonomische Strategien strukturiert sind und verstanden werden können. Dabei geht es nicht um so etwas wie Paranoia.

Wie seid Ihr auf die Idee zu „Geheimgesellschaften“ gekommen?

Alexis: Wo kam sie wohl her – (zu Cristina) aus Deinem Hirn! (lacht)

Cristina: Geheimes Wissen ist faszinierend und anziehend: Das Unbekannte hat mich immer schon gereizt. Es war sehr interessant, sich in die Materie einzugraben und sie kennenzulernen. Man kann auch immer Parallelen zur Kunstwelt ziehen – Georges Bataille etwa hat selbst eine Geheimgesellschaft gegründet: Acéphale. Die Kunstwelt selbst kann man nur verstehen, wenn man ihre Codes kennt, sagen manche. Natürlich will ich nicht behaupten, die Kunstwelt sei eine Geheimgesellschaft – dann könnte man auch paranoid werden und Geheimgesellschaften überall entdecken!

Hattet Ihr bestimmte Kunstwerke im Sinn, als Ihr an „Geheimgesellschaften“ gearbeitet habt?

Cristina: Am Anfang hatten wir die Idee, historische Kunstwerke mit zeitgenössischer Dokumentation in einer nicht-hierarchischen Art und Weise zu mischen – aber aus verschiedenen Gründen wie Zeit und Budget haben wir uns dann dagegen entschieden. So ist das bei jeder Ausstellung: Man hat eine Idee und bestimmte Vorstellungen – und der Kontext bestimmt natürlich auch, was man tun kann.

Alexis: Andy Warhols „Time Capsules“ hätten wir gerne gezeigt – aber geschlossen, nicht geöffnet. Die Andy Warhol Foundation hat das aber nicht verstanden: „Warum wollen die „Time Capsules“ geschlossen zeigen – sind das zeitgenössische ‚weirdos‘?“ Dabei finden wir „Time Capsules“ als Objekte überhaupt nicht spannend, dafür ist das Konzept superinteressant! Weil es in Geheimgesellschaften immer auch um Zeit und Raum geht, wären das die Idealen Objekte gewesen, um den Inhalt von Secret Societies auf einen Punkt zu bringen. „Time Capsules“ sind im Grunde Boxen mit Krempel von Warhol – Briefe, Zeitungen, Alltagsgegenstände etc., Dinge, die ihm wichtig und weniger wichtig waren –, die er verschlossen hat. Von den insgesamt rund 600 Boxen sind vielleicht 200 bis jetzt geöffnet worden: Sie sind wie ein Geheimnis für die Nachwelt. So gesehen ist es auf einer konzeptuellen Ebene eine Geheimgesellschaft in sich: Was drin ist, ist nicht interessant, aber ihre Existenz ist eine massive Provokation, die Warhol hinterlassen hat.

Mich erinnert Euer Ansatz, okkulte Texte zu nutzen, an die neue Musikgattung „Witch House“: Mit Bands wie Esben and the Witch, Salem und oOoOO. Die Gothic-Szene ist in sich auch etwas geheimnisvoll.

Cristina: Wie jede Underground-Szene ist auch die Gothic-Szene geheimnisvoll. Davon fühlen sich Jugendliche angezogen – das war schon immer so.

Alexis: Uns würde es freuen, wenn auch Leute aus dieser Szene in die Ausstellung kommen. Die Menschen heutzutage denken, Sie seien über die Welt, in der sie leben, gut informiert. Das ist ein Missverständnis – Geheimnisse existieren. Und dieses Missverständnis hat direkt mit der Zeit zu tun, in der wir leben. Wir alle schauen Nachrichten und nutzen Google: Wir alle leben in derselben Welt, wir sind alle gleichzeitig über dieselben Dinge informiert – Dinge, die wir nicht ändern können – und wenn, dann nur auf einer symbolischen Ebene, wie die Verhältnisse in Japan oder Libyen. Wir sind Teile einer Gesellschaft, wir teilen eine Realität. Stimmt das alles? Nicht unbedingt.

Alexis: Was machen wir also? Schaffen wir eine Gesellschaft, wie wir sie uns vorstellen? Was ist die neue Aufgabe von Kunst? Soll sie die Gesellschaft unterstützen, ihr Spiel mitspielen? Kann man die Kunstwelt mit der Medienwelt vergleichen? Sind beides Geheimgesellschaften, oder sind sie überhaupt Gesellschaften? Wir stellen uns diesen Fragen.