Vom vermissten Kneipengang bis hin zu den politischen Dimensionen vom Gehen. Gedanken, Anekdoten und Literaturtipps rund um das Hobby der Stunde: Spaziergänge.

Vor 2020 galt es noch als skurril oder zumindest außergewöhnlich, sich mit Freund*innen oder sogar einer Online-Bekanntschaft zum Spazierengehen zu treffen. Die Norm war eher: Treffen in der Kneipe. Die Sehnsucht nach einem mitternächtlichen Getränk am Tresen – oder einem Museumsbesuch, einem Kinoabend, oder an einer Spiegelwand lehnend bei lauter Musik versuchen zu erahnen, ob sich die Unterhaltung um eine eloquente Erläuterung über Astrologie dreht oder eine Schimpftirade über die Unzulänglichkeit des Frankfurter Nachtlebens – wird mit Beginn des Jahres 2021 ein weiteres Mal durch all die wehmütigen Blicke an Straßenecken verstärkt. Wir erinnern uns an die Zeit der verrauchten Wintermäntel, die auf Heizkörpern auslüften... während wir heute mal wieder auf einen anstehenden Spaziergang im Park warten. Denn was gibt es denn sonst noch zu tun?

@miomiomarx, twitter

Das (Spazieren-)Gehen hat in Kunst und Literatur einen besonderen Stellenwert. Dabei kann der Spaziergang jenseits der gewohnten Wege – abseits der Promenaden des Flaneurs, oder entlang von Stadtpassagen und kreisend in Parks – der Anhaltspunkt sein, um sich erneut mit Gehenden in Büchern zu beschäftigen. Dem simplen Gehen als Mittel zur Fortbewegung stehen die Welt der literarischen Stadtpläne, als auch die Erstellung einer persönlichen Kartographie durch die Überlegung des „Gehens als Akt des Sehens, als Akt des Lesens, als Akt des Gehens“ gegenüber. Es stellt sich die Frage, wie ein Spaziergang ein Schlupfloch oder einen „Glitch“ in der Matrix einer Stadt ermöglichen kann, indem ein darunterliegendes Raster (siehe Jorge Luis Borges oder Paul Auster) in Erscheinung tritt. Überlegungen zum Gehen in der Literatur können auch als Hommage an den Stadtplan verstanden werden, verbinden mediale Reflexionen dieses unscheinbaren Gebrauchsgegenstands und rücken den Plan letztlich selbst ins Rampenlicht.

Virginia Woolf schrieb, dass der Winter die beste Zeit für einen Nachtspaziergang ist; am Besten, wenn man sich den Winterspaziergang als ein knarzendes akustisches Erlebnis ohne heftige Windböen vorstellt. In seinen „Nachtspaziergängen“ geht Charles Dickens in den frühen Morgenstunden durch die Straßen Londons, unfähig zu schlafen wegen eines ungenannten Ereignisses, das ihn beunruhigt. Er geht unter Brücken hindurch, vorbei an Gefängnissen, über Friedhöfe und über den Londoner Markt von Covent Garden, wo Jungs unter Kohlkarren schlafen, während in der Ferne Kirchenglocken läuten. Doch das Gehen muss auch nicht immer so besinnlich daherkommen, es kann auch aufregend und regelrecht herausfordernd werden. Das Gehen auf der Straße geht mit einem gewissen Grad an Sichtbarkeit oder „Hypervisibilität“ einher: ein weiblich gelesener Körper spaziert meist nicht als ungesehener Schatten durch die Stadt, Spazieren (wie Sehen) und gesehen werden. Ein solcher Spaziergang kann zum Spießrutenlauf werden und ist oft von Besorgnis und einer bestimmten Art von Wachsamkeit geprägt – nicht nur als Tourist*in  angesichts der Architektur, der Geschichte und den Kulturen, sondern auch gegenüber der Stadt als lebendes, atmendes Wesen, die jede Anwesenheit registriert und ihr potenziell bedrohlich wird. Auch Teju Cole stellt in ähnlicher Weise fest, dass man kein*e Schwarze*r Flaneur*in in einem weißen Terrain sein kann. Schwarze Menschen, sagt er, praktizieren „Psychogeographie“ und laufen wachsam und aufmerksam durch die Straßen.

Ganz anders betroffen ist Paul Austers Daniel Quinn in der Rolle des Privatdetektivs, der seiner Zielperson zu Fuß folgt, um dann zum Stadtplan zurückzukehren und festzustellen, dass sich die Laufwege zu einem buchstabenreichen Hinweis zusammenfügen, der am Ende auch auf sein Schicksal hinweist. Peter Kien in Elias Canettis „Die Blendung“ baut sich aus der Infrastruktur seiner Bibliothek einen Stadtplan, indem er die Buchhandlungen Wiens abklappert. Mit roten Kreisen markiert, stehen diese Buchhandlungen als Haltepunkte entlang eines Staffellaufs, der die eigentliche Suche nach Büchern auslässt und sich stattdessen auf der kartographierten Landkarte verirrt. Würde auch mich die Suche anhand meines persönlichen Bücherregals zu den Straßen führen, die ich noch nicht entdeckt habe? Lässt die neoliberale Stadt eine solche Erkundung noch zu?

Der in Beirut lebende Künstler Omar Mismar umwanderte, für andere unbemerkt, die Straßen von San Francisco, um seinem „Match“ näher zu kommen. Er verkleinerte die auf seiner Dating-App sichtbare Entfernung, indem er durch die Straßen seines Viertel lief. Dadurch entstehen nicht nur meditative Zeichnungen, sondern auch Spuren abseits der ausgetretenen Pfade. Der in Hongkong lebende Künstler und Kurator Enoch Cheng lädt zu auditiven Spaziergängen ein und führt die Teilnehmenden sprachgesteuert durch die Bezirke ihrer Stadt. Dieser Schritt auf den „Vogelpfad“ kann einen normalen Abendspaziergang in ein auditives, visuelles oder emotionales Erlebnis verwandeln. Die Inspiration, die von der literarischen Kartographie und dem Mapping ausgeht, sowie der Output, den ein Spaziergang haben kann, vermag den sich wiederholenden Akt des „feet&greet“ aufzubrechen. Solange der Lockdown nicht vollständig aufgehoben ist, gibt es keine wirklichen Alternativen zum Gehen in Gesellschaft.

KUNST OPEN AIR

Doch lieber Spazierengehen?

Dann ab in die SCHIRN: Die immersive Installation der Künstlerin Caroline Monnet ist ab jetzt in der öffentlich zugänglichen Rotunde zu sehen.

Alle Infos zur Ausstellung