Das MMK Zollamt zeigt noch bis zum 16. September Arbeiten des mexikanischen Künstlers Mauricio Guillén, die die Auswirkungen und Möglichkeiten des Fortschritts verhandeln.

Am Anfang ist da nur die Tonspur, das Bild bleibt schwarz. Wir hören Menschen miteinander tuscheln, undefinierbares Durcheinander, es wird immer leiser, schließlich erscheint eine Hand im Bild und beschreibt das Schwarz, welches nun als Tafel erkennbar wird, mit Kreide. Das Bild öffnet sich und wir befinden uns in einem Unterrichtsraum, das an die Tafel Geschriebene ist eine Aufgabenstellung. Es sitzen neben dem Professor nur noch zwei Studenten im Raum, der Professor für Philosophie und Ästhetik drängt zur Abgabe. Nachdem die beiden Studenten widerwillig ihre Klausur abgeben haben, begegnet er ihnen nochmals draußen auf der Straße.

Als einer der beiden Studenten ihm nun selbstbewusst den Rauch eines Joints ins Gesicht bläst, winkt er schnell ein Taxi herbei und verlangt an das Ende der Avenida Progreso, der Straße des Fortschritts, gefahren zu werden. Vorbei an Straßenschildern mit Namen von großen abendländischen Intellektuellen wie Aristoteles, Voltaire, Kant und Hegel fährt der Professor durch eine erstaunlich europäische anmutende Stadt, hört Schönberg über seinen Walkman und verunmöglicht den typischen Small-Talk mit dem Taxifahrer durch hochtrabende philosophische Antworten, bis er schließlich am Ende der Straße des Fortschritts aussteigt. Der Taxifahrer verabschiedet ihn im Wegfahren mit dem Ausruf „Ignorante!“.

Das Herzstück der Ausstellung des 1971 in Mexiko-Stadt geborenen Künstlers Mauricio Guillén ist eben dieser knapp 20 minütige Film „Avenida Progreso“, welcher auf dem heute längst nicht mehr gängigen 16 mm Filmmaterial gedreht wurde. In seinen kontrastreichen schwarz/weiß Einstellungen erinnert er an den europäischen Autorenfilm der 1960er-Jahre. Wenn der Professor bei einer Tunneldurchfahrt nur noch als schwarze Silhouette im Auto zu sehen ist, rufen diese Bilder unwillkürlich Assoziationen an Fellinis „8 ½“ wach. Aber nicht nur formal wirkt der Film wie eine Hommage an jene Zeit. „Avenida Progreso“ erinnert stark an italienische Filme der Post-Neorealismus-Ära wie die des Filmemachers Michelangelo Antonioni, die sich politischen und gesellschaftlichen Themen über das entfremdete Individuum näherten, denen Kommunikation und Konfliktlösung nicht mehr möglich scheint.

So wirft auch Guilléns Film vorwiegend Fragen auf, anstatt Antworten an die Hand zu geben. Fragen nach Fortschritt und Errungenschaften der Aufklärung, nach Kolonisation und Gesellschaft folgt auf der narrativen Ebene keine Antwort. Vielmehr wird dies auf der Bildebene verhandelt. Die versteht es gekonnt, ein melancholisches Gefühl der Reue, des verpassten Momentes zu evozieren. Und so endet die Reise durch Mexiko-Stadt am Ende der Avenida Progreso, in einer heruntergekommenen Siedlung, zu denen die Straßen Stalin, Trotzki und schlussendlich Marx führen.

Die weiteren Arbeiten von Guillén in der Ausstellung “Avenida Progreso” fügen sich wunderbar in das Gesehene ein. Die vom Künstler bearbeiteten Illustrationen zu Reiseberichten von Alexander Humboldt mit dem Titel „I don’t believe in Aliens“ oder die Arbeit „AnAlphabet“, welche William Nicholsons bekanntes Holzdruck-Alphabet mit Begriffen wie A for Artist, B for Beggar, I for Idiot oder Z for Zoologist zu einem ca. 5 Meter langen Faltbuch zusammensetzt, verweisen, wie auch die Straßennamen im Film, hauptsächlich auf Begriffe, die an vergangene Ideologien oder Ideale erinnern, aber – je nach Betrachter – nur noch als Ironie oder Nostalgie in der Gegenwart nachwirken. Auch der Professor im Film scheint aus der Zeit gefallen und gefangen in einem Netz aus abstrakten Begriffen und hehren Idealen, während er gleichzeitig deutliche Schwierigkeiten mit der Bedienung eines Bankautomaten oder moderner Architektur hat.

Zu Beginn des Films schreibt der Professor den Satz „Everything that aims at an effect is in bad taste“ von Honoré de Balzac an die Tafel, welcher am Ende wieder abgewischt wird. Genau dieses Diktum berücksichtigt Mauricio Guillén in seinen Werken und entlässt den Besucher nachdenklich in die effektbeladene Gegenwart.