Zehn Küsse, acht Vampire, sechs kranke Kinder, zahlreiche Mädchen auf der Brücke. In den Arbeiten von Edvard Munch werden Motive wiederholt, variiert, reproduziert – aber niemals kopiert. Heute könnte man es Update nennen.

Ein Sommertag in Åsgårdstrand. Weiße Häuserfassaden stahlen an der Küste, ein riesiger Laubbaum spiegelt sich dunkel auf der glatten Wasseroberfläche. Auf einer Brücke stehen drei Mädchen. Ihre bodenlangen Kleider strahlen in der Sonne – weiß, orange, weiß. Sie schauen auf das Meer, die Ellenbogen auf das Brückengeländer gestützt. Ein zweiter Blick: Es ist dunkler. Der Himmel ist in tiefes Blau gehüllt. Nicht drei, sondern sechs Mädchen stehen plötzlich auf der Brücke.

In der Ausstellung „Edvard Munch. Der Moderne Blick“ befinden sich zwei Gemälde mit dem Titel „Mädchen auf der Brücke“. Es sind aber keine aufeinanderfolgenden Momentaufnahmen, das enthüllt schon die Datierung: über zwanzig Jahre liegen zwischen den beiden Bildern. Die Brücke des norwegischen Badeortes diente dem Künstler als Kulisse für zahlreiche Szenen, er malte nicht weniger als sieben Versionen von „Mädchen auf der Brücke“, fünf von „Frauen an der Brücke“.

Doch wie lässt sich die Wiederholung eines immer gleichen Motivs verstehen? Dient es der Überarbeitung, der Verbesserung? Eine Ausflug in die Musik könnte weiter helfen: Führt ein Musiker ein Thema durch vielfältige melodische, harmonische und rhythmische Abwandlungen, dann spricht man von Variation.

Die eigene Wirklichkeit prüfen

Am Anfang aller Bilder steht die Erinnerung – ein inneres Stimmungsbild, das sich in bewegenden Augenblicken in das Gedächtnis des Künstlers eingebrannt hat. Im Rückbesinnen kann er das Erlebte wiedererwecken. Siegmund Freud nannte es „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. Durch jedes Bild wird die eigene Wahrnehmung immer wieder auf die Probe gestellt. Dieser lange Kampf um ein Motiv ist für Munch oft schmerzhaft. Er beschreibt seine Arbeit an „Das kranke Kind“ als leidvolles Wiedererinnern an den Tod seiner Schwester – bis zum letzten Schmerzensschrei. Damit arbeitet er innere Konflikte und verdrängte Emotionen ab.

Vorwärtserinnern

Munch betreibt Erinnerungsarbeit ohne sentimental zu sein. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard beschrieb bereits 1843, dass die Wiederholung eben kein Blick nach hinten, sondern vielmehr als eine Bewegung nach vorne zu verstehen sei.

Fast einhundert Jahre nach Kierkegaard ist für Walter Benjamin diese Zeitlichkeit sogar ein Schlüsselelement zur Originalität eines Kunstwerks. Sein Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ist auch heute noch elementar in Bezug auf Wiederholung und Kopie in der Kunst. Benjamin betont, dass ein Zeichen nur durch die Verankerung im Hier und Jetzt Echtheit erhalten kann. Munch, der seine Bilder geradezu updated erweist sich so als Pionier in diesem Diskurs.

Den Bildern wie ein Vater

Munch stellte zahlreiche fotografische Reproduktionen seiner Arbeiten her. Gleichsam erklärte er sich „ganz und gar gegen das, was man eine Bilderfabrik nennt“. Ein vermeintlicher Widerspruch, der sich leicht auflösen lässt – mit nur einem Blick auf den Kollodiumsilberabzug „Mädchen auf der Brücke im Hof des Hauses Pilestredet 30 B, Kristiania“ aus dem Jahr 1902. Das Bild steht schief auf einem Holzkarren und ist schlecht ausgeleuchtet vor dem unruhigen Hintergrund des Innenhofes. Auf anderen Fotos inszeniert er sich selbst, gemeinsam mit den Gemälden. Seine Absicht war nicht etwa eine fotografische Kopie, sondern ein Portrait des Gemäldes.

Nachdem die erste Version von „Pubertät“ 1886 verbrannte und die früheste Fassung von „Zwei Menschen. Die Einsamen“ 1882 einer Schiffsexplosion zum Opfer fiel, begann Munch die Wiederanfertigung dieser Bilder für seine Ausstellungen. Besonders die Motive des „Lebensfrieses“, seiner wichtigsten Themen Liebe, Angst und Tod, sollten gemeinsam erhalten und ausgestellt werden. Bei wichtigen Verkäufen verlangte Munch sogar, das Gemälde vor Übergabe zu Kopiezwecken noch einmal ins Atelier nehmen zu dürfen. Er hatte eine enge Bindung zu seinen Bildern und scharte sie wie seine Kinder um sich.

Ein gutes Bild verschwindet nie

Eine Ansichtskarte führt uns zurück nach Åsgårdstrand. Sie zeigt Strandhäuser, einen riesigen Laubbaum, einen langen Steg, der sich in die Ferne verjüngt und zwei kleine Figuren, die sich auf ihm entfernen. Der Aufbau deckt sich mit Munchs Bildausschnitten der Brücke. Die Karte wurde verkauft, als Munchs Gemälde bereits auf der ganzen Welt bekannt waren.

Munch hat das Motiv durch sein Selbstzitat stetig aus dem Bildkontext gelöst und eigenständig gemacht. Das Ergebnis ist eine Sammlung von „repeatable icons“, wiederholbaren Zeichen. Es wundert nicht, dass in der Folge zahlreiche Künstler wie Andy Warhol oder Erró aus diesem Zitatenschatz schöpfen. Aber auch fernab von künstlerischer Auseinandersetzung zeigt die Åsgårdstrand-Postkarte, dass Munchs Motive längst in die Volkskultur eingegangen sind.