Aus dem Berliner Trubel flüchtet Edvard Munch 1907 für eineinhalb Jahre an die Ostsee. Dort malt er nackte Männer am Strand – 60 Jahre vor dem FKK-Boom ein Skandal.

Endstation Warnemünde. Die Luft ist feucht und salzig, Möwen schreien, Schiffe hupen. Der Bahnhof des kleinen Ortes an der Ostsee ganz in der Nähe von Rostock sieht noch fast so aus wie Anfang Juni 1907, als Edvard Munch hier ankam – nur Currywurstbuden und schallende Schlagermusik trüben heute die bürgerliche Jahrhundertwende-Romantik. Ein paar Meter weiter schwingt sich eine Brücke über einen kleinen Strom und gibt den Blick über Segel- und Fischerboote auf die bunten Fassaden der kleinen hanseatischen Häuser frei, die den Strom bis vor zur Strandpromenade säumen. Wer hier die stickige Stadtluft aus und die heilsame Meeresluft einatmet, kann sich vorstellen, wie verheißend die Ankunft in dem schon damals beliebten Kurort für Munch gewesen sein muss. Er kam direkt aus dem brodelnden Berlin, wo er Szenen- und Bühnenbilder für Max Reinhardts Kammerspiel anfertigte. Alkohol, Depression und ein enormes Arbeitspensum hatten an der Substanz genagt.

Experimentierfreude unter strahlendem Sommerhimmel

Mit Leinwänden, Pinseln, Farben, Paletten und seiner kleinen Kodak-Kamera im Gepäck steigt Munch in den Zug und flüchtet aus dem Großstadttrubel. Vorübergehend quartiert er sich in Hosmanns Hotel ein, dann bezieht er ein altes, bis heute nahezu unverändertes Fischerhaus Am Strom 53. Hier findet er Ruhe und Muse, hier experimentiert er und läuft künstlerisch zu Hochform auf. Er verbringt gerne Zeit auf der verglasten Veranda, fotografiert sich mit seinen Bildern selbst. Dafür stellt er die Kamera auf den Tisch, öffnet den Verschluss, huscht in Pose und verschließt ihn wieder.

An den schwedischen Sammler Ernst Thiel schreibt der 44-Jährige: „Frische Luft und gute finanzielle Bedingungen haben große Dinge vollbracht. Es geht mir viel besser, ich lebe seit dem Sommer von Haferschleim, Milch, Brot und Fisch … nun bin ich wie neu geboren.“ Und an seine Freundin Karen Bjostad: „Ich habe mich niedergelassen in Warnemünde, einem deutschen Aasgaardstrand.“ Kein gutes Vorzeichen: Fünf Jahre zuvor war die Beziehung zu seiner Verlobten Tulla Larsen in Aasgaardstrand in die Brüche gegangen, hatte einen tiefen Schnitt in seiner Seele hinterlassen und zur Flucht aus Norwegen geführt.

Munch will nackte Männer malen

18 Monate wird Munch in Warnemünde verbringen, mit wenigen Unterbrechungen, um nach Berlin und Paris zu reisen. Es ist eine produktive Zeit: Unter dem Einfluss der Ideen von Max Reinhardt und August Strindberg zum „Intimen Theater“ entsteht die Werkserie „Das Grüne Zimmer“. Außerdem malt er neue Versionen bekannter Motive wie „Das kranke Kind“. Munch widmet sich jetzt vermehrt der Aktmalerei – dabei bricht er Tabus und stößt in dem konservativen kleinen Kurort an Grenzen. Er malt das Berliner Aktmodel Rosa Meissner und ihre Schwester, sehr zum Missfallen seiner prüden Haushälterin. Schließlich muss er mit den beiden Frauen ins Hotel Rohn ausweichen. Und er geht noch weiter: Er will auch Männer nackt malen. Sein ihn überaus schätzender Gastgeber, der Lotse Carl Nielsen, steht ihm vor dem Birnbaum im Hinterhof Modell.

Über 60 Jahre bevor die Freikörperkultur in der DDR zur Massenbewegung wird und sich auch am Warnemünder Strand die Nackten tummeln, sorgt Munch für Aufsehen. Er schießt Bilder von sich selbst und Modellen, um die Abzüge als Vorlage für seine Gemälde zu nutzen. Am Strand kann er zwei Männer dafür gewinnen, nackt für ihn zu posieren. Nicht ohne Folgen. Einer der beiden ist der Bade- und Kurmeister des Ortes und wird sofort vom Dienst suspendiert. Munch nutzt das Bild als Vorlage für die „Badenden“.

„Ein furchtbar bürgerlicher Ort“

Anfangs tut Warnemünde Munch gut, doch der Versuch, die Seele zu heilen, entpuppt sich als aussichtslos. Er leidet weiterhin an Depressionen und Verfolgungswahn, fühlt sich in der bürgerlichen Enge erdrückt und schafft es auch nicht, dem Alkohol zu entsagen. Fast jeden Nachmittag sitzt er trinkend in Warnemünder Lokalen, oft allein. „Ich habe jetzt meine sämtlichen Arbeiten in Warnemünde eingepackt und werde wohl kaum dort mehr weilen. Es ist doch auch ein furchtbar bürgerlicher Ort und passt eben nicht für mich“, lässt Munch schließlich den Hamburger Sammler und Mäzen Gustav Schiefler wissen. Im Oktober 1908 reist er ab und begibt sich in Kopenhagen in eine Nervenheilklinik.

Zu DDR-Zeiten fand das Fischerhäuschen am alten Strom kaum Beachtung. Liselotte Zander lebte in dem fast unveränderten Haus bis zu ihrem Tod im Jahr 1990. 1918 begegnete sie als Sechsjährige Munch persönlich, er war noch einmal zurückgekommen. Seit 1991 steht es unter Denkmalschutz, erinnert als „Edvard-Munch-Haus“ an die Zeit des norwegischen Künstlers in Warnemünde und beherbergt jedes Jahr Stipendiaten aus Norwegen und Deutschland. Die jungen Künstler nutzen es als Atelier, tauschen sich in Munchscher Atmosphäre aus und verbringen ihr produktives Jahr an der Ostsee, bevor sie am kleinen Bahnhof wieder in den Zug steigen.