Der Outlaw, das personifizierte Andere, lebt nach einem eigenen moralischen Kodex und ist sich selbst am nächsten. Im kommenden DOUBLE FEATURE zeigt Melanie Jame Wolf einen Teil ihrer „Creep-Studies“, in denen sie sich am Beispiel des Creeps und Outlaws mit Formen struktureller Macht befasst.

Mit einem herausfordernden, selbstbewussten und gelegentlich auch spöttischen Lächeln fixiert ein Outlaw sein Gegenüber. Der obligatorische Zahnstocher hängt locker im Mundwinkel, die Hände nah am imaginierten Waffenholster – allzeit bereit zum tödlichen Schuss. Die mitunter mystisch aufgeladene, ambivalente Figur des kriminellen Außenseiters, die eine ganze Bandbreite von moralischen Topoi – vom Einbruch unzivilisierter Barbarei bis hin zur rebellischen, individualistischen Selbstbehauptung – in sich trägt, steht im Zentrum von Melanie Jame Wolfs „The Creep“ (2023). Der Outlaw, das personifizierte Andere, hält sich nicht an rechtliche Vorschriften oder soziale Konventionen. Er lebt nach einem eigenen moralischen Kodex, ist sich selbst am nächsten und offenbart gleichzeitig Fragilität als auch unbarmherzige Autorität homogen strukturierter Gruppen. Aber zurück zum Anfang: „Ooh! Get away with it for long enough, and it’ll start to look like fate” singt eine, offenbar in ihrer Tonhöhe künstlich veränderte, Stimme zu Beginn von Wolfs Videoarbeit, die als unzuverlässiger Erzähler immer wieder zu hören sein wird.

Melanie Jame Wolf, „The Creep“, 2023, Filmstill, © Melanie Jame Wolf
Der Creep als Seinszustand

Die Arbeit ist Teil der fortlaufenden „Creep-Studies“, in denen sich die Künstlerin und Choreografin mit Formen struktureller Macht auseinandersetzt, genauer: wie Machtformen sich akkumulieren und aufrechterhalten. „Creep studies play out of my fascination with how phenomena move or operate in imperceptible and incremental ways. […] Creep as a mode of being or as an organizing principle”, so Melanie Jame Wolf im Interview mit der Kuratorin Adriana Tranca. Die Mehrdeutigkeit der Begrifflichkeit Creep, das als englisches Verb kriechen, schleichen meint, als Nomen jedoch die Figur eines Widerlings oder Ekels beschreibt, verbindet sich in der Videoarbeit mit der des Outlaws, dessen Modus Operandi sich als creeping beschreiben ließe. Wolf inszeniert den Creep/Outlaw in minimalistischen Sets in einer Bildsprache, die in ihren Close-ups an Spaghetti-Western und in der Ausleuchtung an Hollywood-Filme der 1950er erinnert: Die Figur reitet ein Pauschenpferd vor einem orangen ausgeleuchteten Hintergrund, oder steht in der nächsten Szene vor einem stimmungsvoll bläulich ausgeleuchteten Set. Zikaden zirpen, offenbar brennt unweit ein Lagerfeuer, das leise knistert und einen Schimmern verursacht, während sich im Hintergrund ein dunkles Bergmassiv finster andeutet. Die Erzählerstimme erklingt erneut, beschreibt Berge, Wellen, Wolken, bevor sich ein düsterer Unterton in die Stimme einschleicht, derweil der Outlaw/Creep nachdenklich in weite Ferne starrt oder leicht vor sich hin tänzelt.

 

Melanie Jame Wolf, „The Creep“, 2023, Filmstill, © Melanie Jame Wolf
Melanie Jame Wolf, „The Creep“, 2023, Filmstill, © Melanie Jame Wolf

Anklänge an Walter Benjamins Begrifflichkeit der „mythischen Gewalt“ lassen sich in der Arbeit finden. Mit dieser beschrieb der Sozialwissenschaftler und Philosoph seinerzeit jenes Wesen von Gewalt, das sich beispielsweise in staatlicher Gewalt äußert und in der sprachlichen Sphäre oft in der Satzkonstruktion „wenn, dann …“ Ausdruck findet. Dem Individuum erscheint die Gewalt zunehmend als naturgegeben und unabänderlich. Sie schleicht sich im gewissen Sinne unbewusst als behaupteter Naturzustand ein, der sich so immer wieder gesellschaftlich reproduziert und nie richtig fassen lässt. Passenderweise lässt Melanie Jame Wolf „The Creep“, typisch für das hier reproduzierte Western-Gerne, in einem großen Showdown samt Sergio Leone-esquen Close-ups enden. Mit übertriebenen Grimassen und theatralischen Gehabe tritt hier allerdings der Outlaw gegen sich selbst - oder vielmehr gegen eine abgespaltene Version seines Selbst? - an, wobei schlussendlich offenbleibt, wer die Oberhand behält. Am Ende bleibt nur ein sorgfältig drapiertes, riesiges rotes Latextuch zurück, gleich einer enormen Blutlache. „Ooh, the last refuge, the final parapets of petty tyrants and their states” erklingt die Erzählerstimme sodann ein letztes Mal.

Melanie Jame Wolf, „The Creep“, 2023, Filmstill, © Melanie Jame Wolf
a fucked-up, queer, upside-down West Side Story

Als weiteren Film hat sich Melanie Jame Wolf für „Please Baby Please“ (2022) der amerikanischen Regisseurin Amanda Kramer entschieden. In dem musikalischen Melodrama wird das junge Ehepaar Suze (Andrea Riseborough) und Arthur (Harry Melling) in den 1950er-Jahren, direkt vor der Haustür ihrer spartanischen Wohnung in der New Yorker Lower East Side, Zeuge eines Gewaltverbrechens. Die Begegnung mit den Tätern, allesamt Mitglieder der Gang „Young Gents“, hinterlässt einen bleibenden Eindruck bei dem Paar. Zusehends scheint die archaische, vollständig den bürgerlichen Konventionen widerstrebenden Aura der juvenilen Delinquenten Suze und Arthur in den Bann zu ziehen und macht dabei auch deren traditionellem Rollenverständnis den Garaus. Der Musical-Film bedient sich dabei ästhetisch bei Filmikonen wie Kenneth Anger oder Rainer Werner Fassbinder, der sich seinerzeit für die homoerotische Jean Genet-Verfilmung „Querelle“ selbst ausgiebig vom 50er-Jahre Musical-Regisseur Vincente Minnelli hatte inspirieren lassen. Wichtig zu betonen ist es Amanda Kramer jedoch, dass ihr Film keineswegs „retro“ im Sinne einer zeithistorisch akkuraten Nacherzählung sei. Vielmehr thematisiere der Film Diskurse um Rollenverständnisse in Paarbeziehungen, die gerade heute eine wichtige Rolle spielen würden. Es handele sich, so resümiert die Regisseurin selbst, im Grunde um eine: „fucked-up, queer, upside-down West Side Story.“

Amanda Kramer: Please Baby Please, 2022, Image via riotmaterial.com

DOUBLE FEATURE

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