Wie viel des einstigen Esprits findet man heute noch in Montmartre? Die Autoren Galene Haun und Arno Heitland des Netzwerks Urbanophil suchen im einst so verruchten und lebendigen Pariser Stadtteil den Geist einer längst vergangenen Zeit.

Montmartre fehlt in keinem Reiseführer zur französischen Hauptstadt, immerhin scheint es doch ein Ort purer Nostalgie zu sein, an dem die Erinnerung an die Pariser Bohème, die Künstler und das verruchte Nachtleben, lebendig bleibt. Denken wir an Montmartre, hören wir förmlich die Musik aus der fabelhaften Welt der Amélie und sehen vor unserem inneren Auge einen idyllischen Platz, auf dem Künstler hinter Staffeleien stehen und auf hellen Leinwänden Kunstwerke entstehen lassen.

Warum entwickelte sich ausgerechnet Montmartre im 19. Jahrhundert zu einem Künstler-Viertel, das einen neuen Stil urbaner Malerei hervorbrachte? Geprägt waren die damaligen Werke von Motiven des alltäglichen Lebens und der Bewohner des Viertels, die zu jener Zeit dem Rand der Gesellschaft zugerechnet wurden.

Als die Industrialisierung noch im Aufbruch begriffen war, befand sich auf der Anhöhe vor den Toren der Stadt ein kleines Dorf mit Rebhängen, ausgedehnten Gärten, Feldern und Mühlen. Hier war der Wein billig, es gab Platz für Garten- und Schankbetriebe und die Gegend war bekannt für ihre Tanz- und Amüsierstätten. Die Pariser genossen am Wochenende die Vielfalt der Cabarets und Tanzlokale, und Montmartre entwickelte sich zu einer freizügigen Welt, in der gesellschaftliche Konventionen fielen. Kurz: Ein buntes Treiben, bei dem alle sozialen Schichten aufeinandertrafen.

Die Künstler zur Zeit der Belle Époque fanden hier einen geeigneten Nährboden: Einen Strauß vielfältiger Lebensstile, vor allen Dingen der der Randständigen und Armen, der von der Gesellschaft ausgeschlossenen, der die Künstler ebenso inspirierte wie das pittoreske Umfeld Montmartres mit seiner idyllischen, ländlich geprägten Rückseite. Zudem lockten günstige Mieten, denn von den Plänen Haussmanns, die ein geordnetes Paris vorsahen, blieb der Hügel verschont und weitestgehend in seiner Ursprünglichkeit belassen. Als Nahtstelle des bürgerlichen Lebens zur zwielichtigen Welt des Montmartres zeichnete sich der Grand Boulevard am Fuße des Hügels ab, den der Bourgeois allenfalls mit der Absicht zum nächtlichen Amüsement überschritt. Für die Künstler bot sich hier ein experimentelles Umfeld für einen unkonventionellen und von bürgerlichen Zwängen befreiten Lebensentwurf. Montmartre wurde „zum Inkubator der modernen Kunst“ (SZ, 25./26.01.2013), zum Mythos schlechthin.

"Man muss sich den Montmartre damals als Berg der Kontraste und Jahrmarkt des Lebens vorstellen, auf dem Ausgelassenheit und Armut, geistvolle Dichtung und zotige Gesänge, billiger Sex und charmante Galanterie nebeneinander bestanden." (SZ, 25./26.01.2013)

Der Einzug der Künstler auf dem Montmartre war die Triebfeder der urbanen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Zwar waren auch sie es, die dem Viertel weit über die Stadtgrenzen hinaus zu seinem zwielichtigen Ruf verhalfen – doch führte die zunehmende Attraktivität gleichzeitig auch zu einer veränderten Zusammensetzung der Bevölkerung. Fluch und Segen: Die Lebensqualität, welche die Künstler einst angezogen hatte, verflüchtigte sich und der Mythos wandelte sich schnell zum Klischee. Die Künstler zogen weiter aber das Viertel schöpfte aus seinem Bekanntheitsgrad. Künstlerwohnungen wurden zu Luxusapartments, Cabarets zu Lebensmittelläden. Und das alte Bild der Bohème in Montmartre blieb und scheint sich bis heute in unseren Köpfen verfestigt zu haben.

Doch was von diesem Bild existiert auf dem Montmartre noch wirklich? Finden wir das Bild von dem Savoir-vivre der Künstler in Montmartre auch heute noch in der Realität? Können wir die lebendige und verruchte Atmosphäre von damals noch irgendwo aufspüren? Oder was finden wir in Montmartre eigentlich? 

Ein Besuch auf dem topographischen Höhepunkt des Viertels rund um die Basilika Sacre-Coeur gibt Antworten: Verlassen scheint Montmartre schon lange von den Lebenskünstlern und Visionären, die es hier auf ihrem Lebensweg zu mehr oder weniger weltweitem Ruhm gebracht hatten. Doch ist und bleibt der höchste Pariser Berg auch heute noch ein Gipfel der künstlerisch Ambitionierten: Staffeleien und Leinwände säumen zwar die engen Gassen, doch der Duft des wilden Abenteuers hat sich verflüchtigt. Entsprang die Inspiration der damaligen Künstler noch einem Viertel, dessen illustres Treiben zwischen Absinthrausch und Syphilis für Stadtgespräche sorgte, so zählt es heute vielmehr zu den artigen Orten der Stadt. Avantgarde sucht hier niemand, und verschreckend oder verstörend ist auch die Kunst nicht mehr. Die auf dem Montmartre posierenden und schaffenden Künstler scheint etwas ganz anderes zu motivieren: Touristen möchten ein Stück Montmartre erleben, fast museal, aber auch als Souvenir zum Mitnehmen. Und davon lässt es sich eigentlich ganz gut leben als Künstler – höchst wahrscheinlich ganz im Gegensatz zu jener Zeit, als das Leben auf dem Montmartre nicht gerade einfach, aber umso lebendiger war.

Über die Autoren:
Arno Heitland beschäftigt sich als Fotograf mit Stadt und Architektur und arbeitet als PR-Berater für Architektur, Bauen und Design. Als Mitbegründer der Firma Fein-Rein (>www.fein-rein.de) leitet er die Kommunikation des Berliner Unternehmens, das ökologische und soziale Nachhaltigkeit durch Kooperationen mit gemeinnützigen Einrichtungen anstrebt.
Galene Haun ist eine der Mitbegründerinnen des Netzwerkes urbanophil und engagiert sich ehrenamtlich als Autorin auf dem Weblog und bei der Vorbereitung und Organisation von Veranstaltungen des Netzwerkes. Ihr thematischer Fokus liegt auf der Schnittstelle zwischen Stadt- und Freiraumplanung, der Kultur in Städten sowie der Nachkriegsmoderne. Außerdem arbeitet sie als Dipl.-Ing. der Stadt- und Regionalplanung in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt in Berlin.