Die Installation "Life ist a River" des brasilianischen Künstlers Ernesto Neto erahnt man bereits, lange bevor man sie sieht: exotische Düfte schwelgen durch die Ausstellung "Brasiliana" und rufen unweigerlich Erinnerungen wach.

Ein zunächst nicht näher zu definierender Duft durchzieht die Ausstellung. Ein wenig ist es wie mit den seit den späten 1980er-Jahren vom deutschen Künstler Wolfgang Laib geschaffenen Räumen aus Bienenwachs: man spürt den Duft, fühlt sich wohlig erinnert und weiß doch erst im Angesicht der Arbeit, was es war, das unsere Stimmung geprägt hat.

Ernesto Netos Arbeit „Life is a River", teils abstrakte Installation, teils Skulptur, nimmt die gesamte Breite der Schirn Kunsthalle ein. Sie ist angesiedelt zwischen Installation und Skulptur, zwischen Künstlichkeit und urwüchsiger Natur und wurde vergangenes Jahr auf einer Biennale im Indischen Kerala erstmals gezeigt. „Life is a River" -- ein Balanceakt zwischen Bewegung und Statik -- wurde geschaffen von Ernesto Neto, einem der bekanntesten Akteure der brasilianischen Gegenwartskunst. Geboren wurde Ernesto Saboia de Albuquerque Neto 1964, im Jahr des Militärputsches, als eine Periode autoritärer Staatsführung unter dem Diktat des Militärs begann, in Rio de Janeiro, wo er noch heute lebt und arbeitet. Dort besuchte er die Escola de Artes Visuais Parque Lage, hatte seine ersten Ausstellungen, bevor er in den 1990er-Jahren seinen internationalen Durchbruch mit raumgreifenden Installationen aus weichen, halbdurchsichtigen Textilien hatte, die an manchen Stellen von schweren Mengen an Gewürzen gedehnt und im Gleichgewicht gehalten werden. Selbst im ehrwürdigem Panthéon in Paris durfte Ernesto Neto eine seiner Arbeiten, "Leviathan Thot", zeigen, die wie ein großer Vorläufer von „Life is a River" anmutet.

„Life is a River" ist eine Art überdimensionierte Patchwork-Decke, von der drei helle, lange Zapfen aus dünnem dehnbaren Stoff herabhängen. Die drei Zapfen sind mit einer netzartigen Naht an das weiße, halbtransparente Polyamid befestigt. Eingebettet zwischen gelben, violetten und orangefarbenen Baumwollstoffen scheint der elastische Stoff zu leuchten. Wie übermäßig langestreckte Strumpfhosen ziehen sich einzelne Schläuche bis weit in das kapellenartige Dach des Ausstellungshauses. Das Ganze wird an seiner Längsseite mit Stricken an der Wand befestigt. Der Besucher muss unter der Installation beziehungsweise durch sie hindurch schreiten. Durch ihre olfaktorische Komponente wird der Besucher von ihr berührt und erfährt sie auf eine intime, sinnliche Weise. So definiert Neto die Beziehung zwischen Werk und Ausstellungsbesucher neu.

Neto verschmilzt das Künstliche mit Natürlichem

Ähnlich den Künstlern der Arte Povera schafft Ernesto Neto Rauminstallationen aus alltäglichen, gewöhnlichen Materialien: Textilien, Glasperlen, Sand oder Gewürze. Seine Inspiration schöpft Neto teilweise aus dem brasilianischen Neokonkretismus, deren Vertreter den Rationalismus der Moderne zurückwiesen um die Bedeutung von Gefühl und Affekt zu betonen und lebende Organismen zum Vorbild der Kunst erklärten: „Form, Raum, Zeit und Struktur", heißt es im 1959 von Lygia Clark und anderen veröffentlichen Neokonkreten Manifest, sind „in der Kunstsprache mit einer existenziellen, gefühlsbetonten und affektiven Bedeutung verbunden [...]. Wenn wir ein Ebenbild für das Kunstwerk suchen müssten, würden wir es also weder in der Maschine noch im -- sachlich betrachteten -- Objekt finden, sondern in den Lebewesen." (Auszug Manifesto Neoconcreto, 23. März 1959, Jornal do Brasil)

Ernesto Netos Arbeit hat nicht nur Anklänge an natürliche, organische Dinge, sie ist auch mit solchen gefüllt: in ihrem Inneren, den „Füßen" der drei amöbenartigen Zapfen befinden sich jeweils 16 Kilogramm Gewürze: Kurkuma, Nelken und Kreuzkümmel. Sie verfärben langsam die Stoffhüllen, die mehr und mehr an Boxsäcke voller Schweiß und Tränen erinnern. Neto verschmilzt das Künstliche mit dem Natürlichen, Polyamid mit Gewürzen. Gewicht, Schwerkraft und Spannung geben die Form vor.

Was bleibt, ist eine Erinnerung

Mit dem Titel „Life is a River" geht Neto über die konzeptuellen, partizipativen Installationen seiner brasilianischen Vorläufer, Lygia Clark und Hélio Oiticica hinaus und ergänzt sein Werk um einen esoterischen Beiklang. 

Skulptur denkt Neto interaktiv: man berührt sie mit den Augen, fühlt sie mit den Händen, und noch bevor man sie sieht, dringt sie in uns ein und erfüllt uns mit ihren Gewürzdüften, mit Erinnerungen. Man möchte das Werk anfassen, seine ungewöhnliche Haptik spüren. Die leiseste Berührung hieße eingreifen in die Skulptur, sie verändern. Das Leben ist ein Fluss. Wie lange währt das Werk? Ist es auf Dauer angelegt?

„Life is a River" ist eine sinnlich-poetische Installation im Spannungsfeld zwischen der biomorphen Abstraktion eines Hans Arp und den experimentellen Mobiles eines Alexander Calders. Was bei Calder aber schwerelose Leichtigkeit ist, wirkt bei Neto wie ein nach unten drängendes Ziehen der Schwerkraft. Energie, Spannung, Gleichgewicht, Leichtigkeit und Schwere: „Soft Sculptures" kurz vor den Moment des Reißens. Was bleibt, ist eine Erinnerung; ein Duft, den wir vielleicht in unserer Küche wiederfinden und das Gefühl der Leichtigkeit in der Schwere. Das Leben ist ein Fluss.