Flaneure, weitläufige Architektur, Schnappschüsse, Bewegung: In Gustave Caillebottes „Straße in Paris, Regenwetter“ konzentriert sich das Lebensgefühl des modernen Paris.

Fast scheint es, als sei man selbst auf dieser breiten Pariser Straße unterwegs, als hörte man das Klacken von Absätzen auf dem nassen Pflaster und den Regen auf den eigenen Regenschirm prasseln, als würde man gleich selbst die große Kreuzung erreichen und vorher noch dem elegant gekleideten Paar ausweichen, das direkt auf den Betrachter zuläuft.

Die Vorstudie zu „Straße in Paris, Regenwetter" aus dem Jahr 1877 und das kurz danach detailreicher ausgeführte gleichnamige Gemälde zeigen eine alltägliche Stadtszene. Und sind gerade dadurch revolutionär: Erst Gustave Caillebotte und der Kreis der Maler des Impressionismus widmen sich dem neuen Paris und dem modernen Leben, das sich in den 1870er-Jahren in den Straßen und auf den großen Boulevards abspielt. Seit der Umgestaltung der Stadt durch Baron Georges Haussmann blüht in der Metropole an der Seine eine urbane Kultur auf. Die frisch gepflasterten Straßen werden zur Bühne, auf der sich zahlreiche Flaneure präsentieren. Bürger und Arbeiter spazieren durch die Stadt, bewundern die Auslagen der Schaufenster, die neuen Monumente, Gärten und Apartmenthäuser.

Schnappschüsse von Flaneuren

Was Caillebotte in monumentaler, an Historienbilder erinnernder Größe präsentiert, ist nur ein flüchtiger Moment. Könnte man die nahezu lebensgroß dargestellten Passanten aus ihrer Starre befreien, würden sie schnell am Betrachter vorbeihuschen. Das Paar und der Mann am rechten Bildrand sind stark angeschnitten - ein Stilmittel, das erst die Impressionisten in der Malerei einsetzen. Der Ausschnitt erinnert an die Ästhetik der schnell geschossenen Fotos dieser Zeit. Das neue Medium Fotografie ist erst wenige Jahrzehnte alt, als Caillebotte „Straße in Paris, Regenwetter" malt. Doch handliche Kameras und kurze Belichtungszeiten ermöglichen es selbst Amateuren, Schnappschüsse von Straßenszenen zu schießen.

Die zwischen 1885 und 1895 entstandenen Fotografien von Henri Rivière etwa geben wertvolle Einblicke in den lebendigen Pariser Alltag. Mit seinem Fotoapparat zieht er durch die Stadt und fotografiert, was ihm auf den Straßen vor die Linse kommt. Auf seinen Bildern wehen die Röcke eleganter Damen, ragen Schirme und Zylinder aus flanierenden Gruppen, laufen Hunde umher, rollen Droschken übers Pflaster, überqueren Menschen die neu gebauten Brücken oder sitzen auf Bänken und beobachten die Szenerie.

Ein grenzenloser Bildraum

Schnappschüsse wie diese kannte Caillebotte mit Sicherheit, als er sein Motiv für „Straße in Paris, Regenwetter" entwickelte. Im Gegensatz zu den Fotografien ist das Gemälde aber bedacht und geometrisch sorgfältig durchkomponiert, ein Ergebnis genauer Vorstudien. Caillebotte stellt hier auch nicht etwa das geschäftige Treiben an einem sonnigen Tag dar. Ihn interessiert neben den Menschen in Bewegung auch der Eindruck, den die neue weitläufige architektonische Ordnung auf den modernen Menschen macht.

In Bewegung werden die Bilder erst von den Brüdern Lumière versetzt, 1895 stellen sie in Paris die ersten Filme vor. Schon einige Jahre zuvor, 1879, macht Eadweard Muybridge schnell hintereinander ausgelöste Aufnahmen von Menschen in Bewegung und bereitet die Erfindung des Films vor. Caillebotte nimmt hier schon etwas von der Faszination vorweg, die vom Kino ausgehen wird. Durch den modernen Anschnitt öffnet er den Bildraum, lässt ihn grenzenlos erscheinen und zieht den Betrachter regelrecht ins Geschehen auf der Leinwand hinein.