Autor und Radio-DJ Klaus Walter im Gespräch mit dem Schirn Magazin über die Geschichte der Pop Musik, ihre deutschen Verwandten und ihr Verhältnis zur Pop Art.

Ein Gespräch über Popmusik in den 1960er-Jahren in 20 Minuten zu führen, scheint von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn wo anfangen und wo aufhören? Was betonen und was auslassen? Die 60er-Jahre bilden nicht den Anfang der Popmusik, aber sie bilden das Jahrzehnt, in dem sich so viel so schnell entwickelte und dass nachhaltig so viel prägte wie kaum ein anderes Jahrzehnt. Schon allein ein das Thema "Beatles", die die 60er-Jahre dominierten, kann ganze Abende sprengen. Und auch eine Popmusik-Instanz wie Klaus Walter kommt schon mal ins Schleudern bei der nahezu irrealen Frage „Was war musikalisch eigentlich los in den 60er Jahren?" Der Herausforderung eines 20-minütigen Gesprächs hat er sich für das Schirn Magazin trotzdem gestellt.

Schirn Magazin: Zu allererst eine grundsätzliche Frage: Wo beginnt Popmusik überhaupt?

Klaus Walter: Da kann man an vielen Punkten ansetzen. Man kann sagen, dass die Popmusik ihren Anfang in den 1950er-Jahren mit Elvis, Chuck Berry und Little Richard hatte. In den 60ern gab es dann natürlich eine Explosion mit den Beatles und der Beatlemania in den USA und dem Rest der westlichen Welt. Ganz klar ist die Verbindung von Musik und Kunst im Pop der 60er-Jahre besonders ausgeprägt.

SM: Wie verhalten sich Popmusik und Pop Art zueinander? Sind sie auseinander hervorgegangen oder waren es Parallelentwicklungen?

KW: Es waren Parallelentwicklungen, die dann bei Andy Warhol in New York verschmolzen sind. Er hatte sich als Erfinder der Band Velvet Underground selbst positioniert und fungierte offiziell als deren Produzent. Warhol war kein Musiker, auch kein Studiotechniker, sondern viel mehr der Designer der Band. Das Cover des ersten Velvet Underground-Albums kennt fast jeder -- die von Warhol entworfene Banane. Auf der Vorderseite des Covers steht nur der Name Andy Warhol, der Bandname Velvet Underground steht lediglich auf der Rückseite. Das war ein historischer Wendepunkt für Pop Art und Popmusik.

SM: Wie müssen wir die Musik von Velvet Underground im Kontext der 60er beurteilen?

KW: Velvet Underground war musikalisch viel schroffer, abweisender, düsterer, aber auch realistischer im Vergleich zur Musik der Westküste. Dort blühte das Hippietum, es ging darum, Liebe und Frieden zu propagieren.

SM: Was sind die wichtigsten Stationen der Popmusik in den 60er-Jahren, abgesehen von den Beatles?

KW: Eine Frage, die man eine halbe Stunde lang beantworten könnte. Besonders relevant scheint mir die wahnsinnige Geschwindigkeit, das heißt, die Geschwindigkeit der Veränderung. Und da müssen wir doch noch einmal auf die Beatles zu sprechen kommen. Im Grunde haben die Beatles nur ein knappes Jahrzehnt existiert, von ihrer ersten Single "Love Me Do" 1962 bis zur Trennung 1970. Das Debütalbum "Please Please me" von 1963 stand noch deutlich in der Tradition der zu diesem Zeitpunkt geläufigen Popmusik. Es war kein so radikaler Bruch, wie es heute dargestellt wird. Aber keine drei Jahre später erschien "Rubber Soul", mit dem die Beatles die Form des Albums völlig revolutionierten. Sie haben ihr musikalisches Repertoire fast stündlich ausgedehnt und haben so natürlich auch andere Bands mit sich gezogen.

SM: Welche Art „musikalischer Ausdehnung" war das konkret?

KW: Anfang der 60er-Jahre kamen die ersten Beatbands in England auf. Neben den Beatles und den Rolling Stones die Kinks und die Animals. Ihre musikalische Inspiration kam aus dem afroamerikanischen Rhythm and Blues. Von ihren Vorbildern haben sie sich jedoch in kürzester Zeit emanzipiert und haben ihre eigene Sprache und eigenen Themen gefunden.

SM: Welche Themen waren das?

KW: Bis Anfang der 60er ging es in den Songs hauptsächlich um „boy-meets-girl", also Liebeslieder. Dann wurde eine andere Art und Weise gefunden, Liebeslieder zu singen, wie etwa bei Velvet Underground. Es ging dann auch um andere Seiten der Liebe, bei Velvet Underground etwa um Sadomasochismus, oder um die Abweichung der Heteronorm. Mitte der 60er fand dann eine starke Politisierung der Popmusik statt, ausgelöst vom Vietnamkrieg, der in der Musik aufgegriffen wurde. Aber es wurden auch alltägliche Dinge thematisiert und das waren eben auch die Motive der Pop Art. Es ging um Technologie, Fortschritt, das Leben in der Großstadt.

SM: Die meisten Bands, an die wir aus den 60ern denken, kamen aus Großbritannien oder den USA. Hatte Deutschland bereits eine eigene Popmusik?

KW: Da ist jetzt ein Punkt, um den es auch in der Ausstellung viel geht. Anfangs wurde die anglo-amerikanische Popmusik einfach für deutsche Verhältnisse übersetzt. Deutsche Bands, die angloamerikanische Vorbilder hatten, waren meistens nur ein schlechter Abklatsch. Sie sangen oft in schlechtem Englisch, weil sie es in der Schule nicht gelernt hatten. Ende der 60er gab es dann eine Besinnung auf andere Musiktraditionen, man hat neue Dinge entwickelt. Besonders in Düsseldorf kam eine deutsche Spielart auf, der Krautrock, der ja mit Rock im engeren Sinne wenig zu tun hatte. Der Begriff kommt vom deutschen Sauerkraut. Aber auch das Serielle und sehr bald das Elektronische fand Eingang in die Musik. Vorneweg Kraftwerk, aber auch Neu! oder Conrad Schnitzler. In Köln gab es die Band Can und in Berlin Tangerine Dream und Ash Ra Tempel, die eher mystisch-hippie-esque Musik spielten. Aber sie hatten ihren eigenen Stil. Und um die Wende der 60er und 70er kann man sagen, hat sich eine eigene Musik in der Bundesrepublik entwickelt.

SM: Welche Themen wurden in Deutschland besungen? Sicher nicht der Vietnamkrieg?

KW: Antikriegslieder gab es auch in Deutschland. Diese kamen aber eher von Liedermachern oder von explizit politischen Rockbands, wie etwa Ton Steine Scherben. Es gab auch eine Band namens Floh de Cologne, die sich mit Arbeitskämpfen beschäftigten und der Lehrlingsproblematik. Die waren stark von der 68er-Bewegung geprägt. Bei Ash Ra Tempel oder Tangerine Dream wiederum spielten Texte keine große Rolle. Can hingegen hatte zwei sehr markante Sänger, die ihre Stimmen wie Instrumente einsetzten und bezeichnenderweise keine Deutschen waren: der Afroamerikaner Malcom Mooney und der Japaner Damo Suzuki.

Kraftwerk gebührt das Verdienst, neben der Musik, die Benutzeroberfläche, den Alltag der Bundesrepublik dokumentiert zu haben, gewissermaßen eine Spielart des Kapitalistischen Realismus Düsseldorfer Prägung in der deutschen Pop Art. 

SM: Da denkt man an den Song "Autobahn".

KW: Genau, der auch einen Rückgriff auf die Nazizeit beinhaltet. Es gab ja das geflügelte Wort „Bei den Nazis war nicht alles schlecht, sie haben die Autobahn erfunden". Von der Autobahn geht's weiter über die Faszination für Technologie und Mobilität und den Song „Trans Europa Express". Kraftwerk haben einen Song über Schaufensterpuppen gemacht und über das Model. Später waren sie fasziniert von der Computerwelt und haben einen Song über einen Taschenrechner gemacht, mit dem man Musik machen kann. Mit Kraftwerk wurde der technische Fortschritt des bundesrepublikanischen Alltags nacherzählt und damit sind sie nah bei der Pop Art.

SM: Wie müssen wir uns das Radioprogramm der 60er-Jahre vorstellen? Wurde Popmusik schon großflächig gespielt?

KW: Das Radio hat für sehr lange Zeit die musikalischen Entwicklungen relativ gut abgebildet. Das hat sich erst in den 80er-Jahren mit dem Siegeszug der Privatradios geändert. In den 60ern wurden teilweise komplette Alben vorgestellt oder es gab Sendungen, die zwei Stunden lang nur die Neuerscheinungen der Woche gespielt haben. Das heißt, die Zuhörer wurden zwei Stunden lang mit Musik konfrontiert, die sie noch nicht kannten. Das ist heute undenkbar. Es wurden aber auch Livemitschnitte gesendet

SM: Und im Zeitschriftensektor? Gab es schon Popmusik-Zeitschriften?

KW: Die Popeinstiegsdroge war die "Bravo", ich habe meine erste mit sieben Jahren gekauft. Für etwas Ältere gab es dann schon den "Musikexpress", der ursprünglich aus Den Haag kam. Es gab aber auch so kurzlebige Zeitschriften wie Pop. Die erste Zeitung, die sich seriös mit dem Phänomen Pop auseinandergesetzt hat, war "Sounds", die Mitte der 60er zum ersten Mal erschien. Die gab es nicht überall und schon gar nicht in der Provinz. Sie war stark beeinflusst von englischen Publikationen und dem "Rolling Stone". In den späten 70er-Jahren waren dann auch Punk und New Wave stark in der Zeitschrift vertreten, die die Diederichsen-Brüder, Diedrich und Detlef, mit reinbrachten.