Als François Dufrêne den Plakatabriss für sich entdeckt, dreht er die Fetzen einfach um – und beginnt, sich wie ein Archivar durch die Rückseite der Plakatwände zu arbeiten.

Wie anfangen bei einem Künstler, bei dem doch scheinbar alles zusammenhängt? François Dufrêne war Zeit seines Lebens nicht auf ein einzelnes Medium festgelegt. Folgerichtig werden in der SCHIRN-Ausstellung dann auch Film- und Tonaufnahmen, unbearbeitete und bearbeitete Plakatabrisse ebenbürtig nebeneinander, ergänzend, parallel präsentiert.

Undefinierbare Laute, die an Atem- und Sprachübungen beim Schauspieltraining erinnern. Unschuldige Laute, vulgäre Laute. Ein Hauchen, Atmen, ein Anschwillen von Leise zu Laut und umgekehrt. Ein wunderschön schräger Singsang. Und, schließlich: Stakkatohafte Silben, die noch entfernt ihren Ursprung, die französische Sprache, verraten -- die aber ebenso gut eine frankophone Version von Charlie Chaplins „Der große Diktator" sein könnten. Francois Dufrene hat sich nicht nur der neu entdeckten Möglichkeiten lautmalerischer Gedichte bedient, er hat eben diese bis aufs Äußerste ausgereizt -- und so selbst neue Bewegungen begründet: 1946 tritt der in Paris geborene Dufrêne als gerade einmal 16-jähriger den Lettristen um Isidore Isou bei. Gesprochene und visuelle Kunst, so die Überzeugung der Künstlergruppe, sei an ihre Grenzen gelangt. Das Gedicht der Zukunft, das im Übrigen auch andere Formen wie zum Beispiel Film annehmen konnte, sollte sich völlig von semantischen Zusammenhängen befreien -- und nur um seiner selbst willen, ganz und gar formal bestehen.

Die radikal neue Idee des "Lettrisme" scheint wie für Dufrêne gemacht: Seine Begeisterung für das gesprochene Wort, sein Interesse am "calembour", dem Wortspiel oder Kalauer, kann er hier voll ausleben. Trotzdem beginnt ihm bald auch diese Bewegung zu eng zu werden: Zusammen mit Jean-Louis Brau und Gil J Wolman gründet er bald die Ultra-Lettristen, deren Name gleichsam Programm wie auch vielleicht nicht ganz so ernstgemeint radikal sein sollte -- denn tatsächlich ging es Dufrêne und seinen Künstlerfreunden um einen weniger dogmatischen, insofern eben noch radikal freieren Zugang zur Sprache: Blödsinn und Bedeutung sollten hier gleichberechtigt nebeneinander stehen, der Sound von Silben, Wörtern und Lauten soll spontan und direkt aufgenommen oder vorgetragen und somit im Moment des Entstehens zum Kunstwerk werden. Seine Crirythmes, wie Dufrêne die Performances nannte, begeisterten das kunstbeflissene Publikum und beeinflussten zahlreiche Avantgarde-Musiker und Sound-Poeten. 1952 entwickelte er seinen „Film ohne Film", quasi eine Art Tonspur mit zugehörigem Drehbuch, der trotz des kompletten Fehlens eines bewegten Bildes in einem Nischenprogramm der Filmfestspiele von Cannes aufgeführt wurde.

Mit einem ähnlich undogmatischen Eifer bearbeitete François Dufrêne nur wenig später die ersten Plakatabrisse: Als er Raymond Hains und Jacques Villeglé kennenlernte, hatten die bereits etliche Abrisse mit ins Atelier genommen. Dufrêne kommentierte diesen Zusammenhang auf gewohnt süffisante Weise: Er werde mit den Plakatabrissen der Passanten nicht recht warm, er möge diese nur, wenn sie von seinen „Spießgesellen" Hains und Villeglé mit einiger Sorgfalt ausgewählt worden seien. Tatsächlich interessierte sich Dufrêne selbst vor allem für die Rückseite seiner Plakatabrisse, die durch Verwitterung sowie durch den immer wieder neuen Auftrag von Plakatleim eine morbide Ästhetik entfalten: Zwischen dem glänzend lackierten Braun und Beige in allen Nuancen schimmern farbige Schichten durch -- und Buchstaben, Überreste eines irgendwie einmal da gewesenen Bedeutungszusammenhanges, vielleicht ein Grund, wieso der sprachverliebte Dufrêne sich ausgerechnet für diesen Zugang zum Plakat entscheidet. Wie ein Archivar arbeitet er sich durch die verschiedenen Schichten durch, zerkratzt und zerfurcht, nur um dann wieder eine halbe Rückseite mit Halbsätzen in geschnörkelter Schreibschrift zu beschriften, der Titel: „Je ne suis pas un calligraphe moi! ni callo, ni caco". Später gründet Dufrêne zusammen mit Hains, Villeglé, Yves Klein, Tinguely, dem Kunstkritiker Pierre Restany und weiteren Künstlern die Gruppe des Nouveau réalisme, auch hier stets auf der Suche nach maximaler Freiheit, die ihm weitere Möglichkeiten eröffnet statt ihn in seinem eigenen Werk zu beschränken.

Wer François Dufrêne begreifen will, der muss das alles zusammen betrachten: Den Spieltrieb, mit dem er seine phonetischen Gedichte konzipiert oder Plakatrückwände beschreibt, und die Gewissenhaftigkeit, mit der er genau diese Arbeitsschritte ausführt; seine Passion für Sprache, für Wörter, Buchstaben und Laute, neu zusammengesetzt, mal als Wortspiel mit konkretem Bezug zum tatsächlich Gesprochenen und mal der reinen Form verpflichtet und seine neu entdeckte Faszination für den Plakatabriss, genauer: für die Rückseite seiner abgerissenen Plakatfetzen.