Ein geschundenes Ferkel rennt in einen Teich, bevor es sich in einer surrealen Schattenwelt wiederfindet und auf Hunde in Latexkostümen trifft. Im DOUBLE FEATURE mit Marianna Simnett tauchen wir in groteske Erfahrungswelten ein und loten die Grenzen zwischen dem eigenen Leib und dem des Anderen aus.

Der Prolog dauert nur eine gute Minute: Eine Person läuft steten Schrittes einen Acker entlang. In der einen Hand einen Eimer, dessen Inhalt sich gleich erklären wird, in der anderen eine Art Heckenschere. Auf der Tonspur sind Schweine zu hören, die schon im nächsten Moment von der Kamera eingefangen werden. Während man im Kopf die Bilder langsam zu einer Erzählung zusammenfügt und zu ahnen beginnt, was da gleich passiert, macht die Montage kurzen Prozess: In Großaufnahme wird dem Ferkel der Schwanz kupiert. Das schreiende, geschundene Tier rennt auf dem Feld davon an Kühen vorbei und landet schließlich in einem Teich, der sich von der blutenden Wunde alsbald rot färbt. Und schon wird man weiter reingesogen in die fabelhaft merkwürdige Welt von „The Severed Tail” (2022) von Marianna Simnett, eine Dreikanal-Videoinstallation, die sie auf der 59. Venedig Biennale präsentierte. Denn in der nächsten Szene betritt das Ferkel – kein leibhaftiges Tier mehr, sondern mittlerweile ein Mensch in Kostüm – eine surreal anmutende Unterwelt, die es erst zum Ende wieder verlassen wird.

Marianna Simnett, ‘The Severed Tail’, 2022. Foto: Roberto Marossi, Courtesy of La Biennale di Venezia, Image via exibart.es

Die Grenze zwischen dem eigenen Leib und dem des Anderen

Diese Unterwelt ist besiedelt von Fabel- und Mischwesen, die Märchen oder alten mythologischen Sagen entsprungen zu sein scheinen. „No tears please, piggy. They’re wasted here“, sagt ein Wesen zu ihr, bevor sie sich auf dem Weg durch die Fetisch-Schattenwelt macht. Dort trifft das an den Schmerzen der Kupierung leidende Ferkel auf Hunde in Latexkostümen, durchquert düstere Räume voller geschundener Kreaturen und wird gezwungen, an einem grotesken Wettbewerb teilzunehmen, bevor es schließlich auf King Seahorse trifft, der sich ihres Körpers ermächtigen will. In vielen Arbeiten setzt sich Marianna Simnett mit Körperempfindungen, Schmerzen und der Grenze zwischen dem eigenen Leib und dem des Anderen auseinander. „The Severed Tail is very much about coping and surviving in this current climate of extreme distance and alienation and finding fantastical wild possibilities within that, trying to find new ways of living, even if that means living not in your own body and taking on the guise of someone else”, so die britische Künstlerin in einem Interview.

Marianna Simnett, The Severed Tail, 2022 (video still). Courtesy the artist and Société, Berlin.

Derlei physische Veränderungen nahm Simnett im Rahmen ihrer künstlerischen Arbeit auch am eigenen Körper auf: In „The Needle and the Larynx“ (2016) ließ sie sich Botox in die Kehlkopfmuskulatur injizieren – ein Eingriff, den sonst Männer an sich vornehmen lassen, um ihre Stimmhöhe zu senken. Medizinische Eingriffe und das Unbehagen über den eigenen Körper thematisiert auch „Blood in my milk“ (2018), während „Udder“ (2014) die Schnittmenge zwischen Natur und Technik am Beispiel eines vollautomatisierten Molkereibetriebes untersucht.

Geschundene Tierkörper sind auch in Marianna Simnetts „Prayers for Roadkill“ (2022) die Protagonisten: Für den Stop-Motion-Film hat die Künstlerin die leiblichen Überreste von Tieren, die durch Wildunfälle getötet wurden, eingesammelt, präpariert und ausgestopft. Im Stil eines Kinderfilms inszeniert Simnett die leblosen Körper jedoch in einer Narration, die viel mehr an das Body-Horror-Genre erinnert – immer wieder malträtieren sich die Tiere untereinander und verlieren dabei Körperteile, bevor der Tod sie wieder ereilt und der Schrecken in anderer Umgebung von vorne beginnt. So sind die Körper in den grotesken Erfahrungswelten von Marianna Simnett immer beides: Quell und Grundlage jeglicher ekstatischer Empfindungen und zugleich Ursache größter Verunsicherung und Vereinzelung.

Marianna Simnett, Foto: Christoph Voy
Ein unnützer Farmer trifft eine unnütze Kuh

In Buster Keatons „Go West“ (1925), den sich Marianna Simnett als weiteren Film ausgesucht hat, steht ebenfalls ein Tier im Zentrum der Erzählung. In der Stummfilmkomödie spielt Keaton den jungen Friendless, einen Hobo auf der Suche nach einem besseren Leben, der sich voller Hoffnung gen Westen aufgemacht hat. Durch unglückliche Zufälle strandet der mittellose Mann in der amerikanischen Prärie und heuert, obwohl er keinerlei Erfahrungen hat, auf einer Rinderfarm an. Dort steht die junge Kuh Brown Eyes vor ganz anderen Problemen: Da sie keine Milch gibt, wird sie kurzerhand zu den Schlachttieren auf die Weide abgeschoben. Zwischen Friendless, dem unnützen Farmer, und Brown Eyes, der unnützen Kuh, entwickelt sich eine innige Bindung, und der Vagabund versucht bald darauf alles, um das Tier vor dessen sicheren Tod zu beschützen.

Die Westernparodie konterkariert in amüsanter Weise all das, was typische Western bis in die 70er-Jahre hinein dominieren sollte: gestählte Männlichkeit, Unabhängigkeit und ein rationalisierendes Verhältnis zur direkten Natur, mit der man sich den ganzen Tag umgibt. Genauso, wie der glücklose Hobo Friendless die Kuh Brown Eyes vor den Gefahren der Umwelt schützt, macht die Kuh den Mann in gewisser Weise zu ihrem Protegé. Wie ein roter Faden durchzieht den Film dabei eine Art Unbehagen über den eigenen Körper, sei es in den ungelenken Bewegungen von Friendless, oder der scheinbaren Unverwertbarkeit des Tieres, in dessen traurigem Blick die Misere seiner Existenz (ein unnützes Nutztier, vorgesehen zur Schlachtung) manifestiert zu sein scheint. Erst im Aufeinandertreffen der beiden Außenseiter entsteht beim ungleichen Paar eine leise Ahnung eines besseren Lebens. „My body is a cage“, sang Peter Gabriel einst, „You're standing next to me, My mind holds the key”.

Buster Keaton in Go West, Image via britannica.com

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