Ulay ließ sich im Rahmen einer Performance in hypnotische Trance versetzen. Wie Hypnose funktioniert und wie die Arbeit mit dem Künstler war, erzählt der Hypnotherapeut Nikolai Hanf-Dressler.

SCHIRN MAGAZIN: Herr Hanf-Dressler, was ist eigentlich Hypnose?

Nikolai Hanf-Dressler: Hypnose ist ein Verfahren, um einen Menschen in Trance zu bringen. Eine Trance ist ein monotheistischer Zustand, eine Art „Eingedanklichkeit“, bei dem die sogenannte „Firewall“, die das Unbewusste schützt, aufgehoben wird. Die Trance ermöglicht es, an Gedankenmuster und Verhaltensweisen, die „Imprints“ (Eine Prägung aus der Vergangenheit, die unser Verhalten im Jetzt beeinflusst, ohne dass wir uns darüber bewusst sind – Anm. d. Red.) zu gelangen und diese zu befreien bzw. aufzulösen – eine Sache, die man mit normaler Gesprächstherapie oder Psychoanalyse nicht erreicht. Es entsteht ein Theta-Wellen-Zustand im Gehirn, so wie es noch bei Kindern bis zum 6. Lebensjahr der Fall ist – diese kann man noch ziemlich leicht beeinflussen und sie lernen sehr schnell sehr viel. In diesen Zustand werden auch meine Klienten gebracht. Die Hypnose ist also das Verfahren, um in den Zustand einer hypnotischen Trance zu gelangen. Man sagt zwar oft „in Hypnose“ oder „unter Hypnose“, aber das ist eigentlich falsch. Eine hypnotische Trance zeichnet sich dadurch aus, dass das Unbewusste geöffnet ist und einen Rapport-Bezug hat: der Klient folgt dem Therapeuten und was der Therapeut sagt, baut sich so im Klienten auf. Deswegen ist es wichtig, dass man keine suggestive Therapie macht, um keine Verschiebung der Symptome zu bewirken. Mit Suggestionen könnte ich zwar z.B. das Nägelkauen des Klienten beenden, aber dann bekäme er vielleicht stattdessen regelmäßig Ausschlag.

Wenn man das Unbewusste öffnet, kann man sich ja nicht aussuchen, welche Themen, Erinnerungen und Emotionen dann durch die Schleusen kommen – wie kann man das als Therapeut steuern?

Als Hypnoanalytiker bringe ich den Klienten in eine „auslösende Situation“, also eine Situation, in der Angst hochkommt. Das ist nicht unbedingt die Situation der „Kernangst“, also der Moment, auf der die jetzige Angst beruht. Ich führe also den Klienten – z.B. jemandem mit einer sozialen Phobie – in den auslösenden Moment, schicke ihn während der Hypnose gedanklich in einen Einkaufsladen mit vielen Menschen. Dann koche ich das immer weiter hoch, bis zum Siedepunkt des Gefühls, so dass ich genug Schub habe, um Affektbrücken zu bauen: Ich zähle bis drei und dann befindet sich der Klient in einem viel früheren Ereignis. Ich gehe mit ihm in immer weiter zurückliegende Situationen, bis ich auf das Kernereignis stoße, bei dem sich der Klient zum ersten Mal ein Urteil gefällt hat über sich und die Welt. In dem er sich verletzlich gefühlt hat, Glaubenssätze wie „Ich gehöre nicht dazu“ oder „Ich bin ganz allein“ gebildet hat. Nun wird die Emotion aus dem Ereignis herausgetrennt – der Klient kann sich im Anschluss vielleicht noch an das Ereignis erinnern, aber es ist nicht mehr bedrohlich. Das funktioniert auch sehr gut bei somatischen Problemen, z.B. gibt es Politiker, die sich vor jeder öffentlichen Rede erbrechen müssen – auch darunter liegt meistens eine Emotion. Um Emotion und Situation voneinander zu lösen, reicht eine Sitzung. Bei generalisierten Angststörungen dauert es maximal fünf Sitzungen.

Nikolai Hanf-Dressler, Foto Oliver Rath
Das Verfahren der Hypnose ähnelt ein bisschen den Methoden der Verhaltenstherapie - nur dass man nicht real in die Situation hineingeht, sondern rein suggestiv, oder? 

In der Hypnose geht man schon richtig in die Situation rein, das ganze läuft assoziativ und wird simuliert. Man erlebt es also nochmal real. Aber es ist sehr sanft, weil es schnell geht und ich den Klienten steuern kann: Ich kann assoziieren, ich kann die Szene verblassen lassen und habe das Ganze in der Hand. In der Verhaltenstherapie habe ich ein bestimmtes Angstprogramm, gegen das ich als Klient mit meinem Verhalten vorgehe, bis ich merke, dass es gar nicht mehr gefährlich ist und ich keine Angst zu haben brauche. Aber das ist Auflösung auf die harte Tour und ist sehr anstrengend! In der Hypnotherapie lösen wir diese Angst zuerst auf und machen dann eine Art Verhaltenstherapie, bei der wir z.B. Fahrstuhl fahren bei Fahrstuhlphobie oder ins Flugzeug steigen bei Flugangst. Es ist aber mehr eine Verifikation, dass die Angst wirklich verschwunden ist, denn eine Verhaltenstherapie.

Mit was für Anliegen kommen die Klienten zu Ihnen?

Ängste, Depressionen – vor allem jetzt in der dunklen Jahreszeit – psychosomatische Erkrankungen wie Tinnitus. Mein Fachgebiet ist die Psychoneuroimmunologie, also alles, was mit Allergien und dem Immunsystem zusammenhängt. Es ist erstaunlich, wie schnell sich z.B. Lebensmittelunverträglichkeiten auflösen lassen!

Von der Performance mit Ulay gibt es keine öffentlich zugängliche Aufzeichnung. Bitte erzählen Sie doch mal, was genau an dem Abend passiert ist.

Ich habe den Auftrag bekommen, Ulay während der Performance mit der Frage „Wer bist du, Ulay?“ zu penetrieren. Ich habe ihn dann in eine tiefe Trance versetzt, was für einige Menschen im Publikum etwas schwierig war, denn es sieht schon etwas gruselig aus. Für den Klienten ist es ein ganz komfortabler Zustand, doch weil wir hier keine Trance-Kultur wie in anderen Ländern haben – wenn man von den Ritualen der katholischen Kirche mal absieht, die auch etwas tranceartiges haben-, sind die Menschen damit nicht vertraut. Das Publikum wurde vorher darüber informiert, dass es zu Abreaktionen kommen kann; denn wenn sich bei dem Klienten ein Imprint öffnet, versuchen wir nicht, diesen zu schließen – alles muss erstmal raus. Viele können sich aber nicht vorstellen, dass wir als Therapeuten damit umgehen können, wenn ein Klient z.B. von jetzt auf gleich heult wie ein Schlosshund. Für Menschen, die das noch nicht erlebt haben, kann das erstmal schockierend sein. Da sitzt ein Mensch, der ist komplett offen, da ist keine Maske mehr vorhanden - wir sehen ihn so, wie er wirklich ist. Diese Verletzlichkeit finde ich unglaublich schön! In diesem Zustand wird der größte Diktator zu einem kleinen Jungen, der nur glücklich sein möchte! Doch bei Ulay habe ich schon zuvor – noch bevor ich ihn überhaupt in Trance versetzt habe – einen Menschen gesehen, der vollkommen echt und authentisch ist.

Nikolai Hanf-Dressler, Foto Oliver Rath

Die Trance-Induktionen gehen schnell und sehr tief. Ulay saß auf der Bühne auf einem bequemen Stuhl. Er war so tief in Trance, dass ich ihn kaum verstehen konnte, er hat stark genuschelt und ich musste seine Worte oft wiederholen. Dann kam es zu einer Regression – also zu einem Rückzug auf eine frühere Stufe der Persönlichkeitsentwicklung – und Ulay wurde zu Uwe, einem kleinen Jungen in Lederhosen. Ich habe ihm weitere Affektbrücken gebaut, also die Emotion verstärkt, damit er in den Erinnerungen zurückgeht. Denn es war eine Herausforderung, dass er nicht mit einem konkreten Problem bei mir war; wir hatten verabredet, dass ich nur mit dem arbeiten darf, was kommt und ihn nicht in eine Richtung leite. Ich habe aber assoziativ eine Art Irrgarten gebaut, durch den ich Ulay geleitet habe: manche Türen und Wege waren verschlossen, andere offen. Ich habe gleich die erste Emotion genommen, die aufkam, damit er in eine weitere Regression geht. So kam die Situation auf, in der sein asthmakranker Vater kurz vor dem Ersticken stand; der kleine Uwe ist damals durch die Nacht gelaufen, um einen Arzt zu holen. Ich habe in allen Situationen immer gefragt „Bist du das?“ und er antwortete jedes Mal „Ja, das bin ich, das bin ich auch“ und so kamen ganz viele verschiedene Persönlichkeitsanteile von ihm hervor. Er bemerkte, dass er immer der ist, mit dem er sich gerade identifiziert. 

Er war auf der Suche nach einer ganz klaren Antwort auf die Frage „Wer bin ich“. Aber diese Antwort kam erst, als ich ihn aus dem Verstand herausgenommen habe und er sich bewusst wurde, dass er immer noch existiert, obwohl sein Verstand komplett schweigt. Er war jetzt nicht mehr Künstler, Mann, etc., er WAR nur noch. Plötzlich hat er diese Weite gespürt und gemerkt: Das bin ich! Das war für ihn so ergreifend, dass er stark geweint hat. Das, was er ist, hat er als Gefühl entdeckt. Ein Gefühl, was außerhalb der „Ichigkeit des Egos“ steht, er hat es als „tiefen Frieden“ beschrieben. Kein Gefühl, welches z.B. durch Erfolg von außen erzeugt wird, sondern ein Auflösen des Egos – eigentlich kann man das gar nicht beschreiben.

Wie waren die Reaktionen von den Zuschauern?

Völlig unterschiedlich. Die einen waren total inspiriert, auch gerührt und bewegt. Die anderen hielten es für eine Art Werk des Teufels, so kam es mir vor!

Bei Hypnose vor Publikum haben viele die Assoziation, dass der Hypnotisierte z.B. wie ein Frosch über die Bühne hüpft, weil er nicht mehr eigenmächtig handeln kann und manipulierbar ist. Wie war das während der Performance?

Das war das Schwierige für mich, weil ich mit Ulay ja keine Therapie machen, sondern nur das nehmen durfte, was hochkommt. Ich hatte das Glück, dass tatsächlich sehr viel hoch gekommen ist. Und es gab ja trotzdem eine Dramaturgie: Wie bringe ich Ulay zu der Antwort auf seine Frage „Wer bin ich?“? Ich habe ihn dann aus dem Verstand genommen: Man schickt den Klienten sozusagen in die Lücke zwischen den Gedanken, so dass er sich bewusst wird, dass alles leer und bedeutungslos ist. Das klingt erstmal brutal, aber es beinhaltet die Freiheit, dass man nur das ist, dem man Bedeutung schenkt! Ulay hat immer wieder assoziiert und ist dann wieder in die Lücke und hat sein Selbst als viel größer als alles andere erfahren. Gleichzeitig ist er ja bei Bewusstsein, auch wenn das eingeschränkt ist, und macht nur das, was er machen möchte.

Hat Ulay denn die Antwort auf seine Frage gefunden?

Ja. Er hatte zwar nicht damit gerechnet, dass es so passiert, aber ja. 

Haben Sie das Ganze mit Ulay nachbearbeitet?

Ulay musste mir vorher das Einverständnis geben, dass wir das nachbearbeiten, ja. Denn während der Hypnose kann so viel hochkommen – was, kann man sich ja nicht aussuchen – und das ist dann an der Oberfläche. Ulay erzählte mir, dass er am nächsten Morgen erstmal Schwierigkeiten hatte, aufzustehen und sich komisch fühlte. Wir sind aber in gutem Kontakt und planen schon die nächste gemeinsame Performance!