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ANTI-ELITÄR UND UNBEQUEM

Ob Statements zur Flüchtlingskrise oder Tanzperformances über gesellschaftliche Missstände: Für Oğuz Şen ist Kunst kein eitler Selbstzweck. Und elitär soll sie erst recht nicht sein.

Von Markus Wölfelschneider (Text), Neven Allgeier (Foto)

Bloß keine falsche Gemütlichkeit. Der Frankfurter Künstler Oğuz Şen hat sein Atelier ganz bewusst eher minimalistisch und funktional eingerichtet. An den weißen Wänden lehnen gerahmte Bilder. Es gibt ein schwarzes Regal mit Farbvorräten, über dem ein roter Maler-Overall hängt. Sonst sieht der Raum noch immer ein bisschen so aus wie das Büro, das er früher tatsächlich einmal war. „Gemütlichkeit lenkt mich nur ab. Da werde ich schnell bequem“, sagt Şen. „Wenn ich hier zum Beispiel eine Couch stehen hätte, würde ich ewig darauf herumliegen und über die Ideen zu einem Bild nachdenken.“

Es ist ein warmer Sommertag im Frankfurter Ostend. Şen öffnet das Fenster und holt zwei Dosen Limonade aus der Küche um die Ecke. „Bitte sehr, eisgekühlt!“. Dann erklärt er uns die Anwesenheit unzähliger in Draht gefasster Blütenblätter aus Nylon, die auf dem Fußboden mitten im Raum einen bunten Haufen bilden. Sie bestehen aus dem Stoff getragener Strumpfhosen und gehören zu einer Installation, die Şen demnächst in einem Abrisshaus, einer ehemaligen Metzgerei, zeigen will. Die Installation wiederum soll Teil einer Tanzperfomance werden, bei der es um unseren Umgang mit Wohlstandsmüll und natürlichen Ressourcen geht.

Şen versteht sich nicht nur als Künstler, sondern auch als Aktivist. Bei seinen bekanntesten Werken handelt es sich um großflächige Wandgemälde im öffentlichen Raum. „Ich nutze die Straße, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. Sie ist der perfekte Ort dafür, weil hier jeder Zugang hat. Kunst darf nicht elitär sein.“ Oft wird Şen als „Graffiti-Künstler“ oder „Street-Artist“ bezeichnet. „Das trifft es aber nicht wirklich“, erklärt er. „Eigentlich komme ich von der Malerei her. Die russischen Avantgardisten zum Beispiel haben mich sehr inspiriert.“ Seinen alten Künstlernamen „Bobby Borderline“, unter dem er früher auch Musik produzierte, verwendet er heute übrigens nicht mehr.

Ich nutze die Straße, um auf gesell­schaft­li­che Miss­stände hinzu­wei­sen. [...] Kunst darf nicht elitär sein.

Oğuz Şen
Foto: Neven Allgeier

Foto: Neven Allgeier
Foto: Neven Allgeier
Foto: Neven Allgeier

Seine Wandgemälde realisiert Şen meist zusammen mit dem Künstler Justus Becker und einer Gruppe, die sich „Kollektiv ohne Namen“ nennt. „Bei uns kann prinzipiell jeder mitmachen, der Lust dazu hat“, sagt er. Eines der neuesten Werke des Kollektivs: ein 27 Meter langes Gemälde unter der Frankfurter Friedensbrücke, das den Opfern des rassistisch motivierten Attentats in Hanau gedenkt. Am 19. Februar wurden bei dieser Tat neun Menschen getötet.

Das mit Abstand bekannteste Bild aus den Händen von Şen und Becker zeigte den 2015 auf der Flucht aus Syrien im Meer ertrunkenen Jungen Alan Kurdi. Das Motiv selbst war nicht besonders originell, gibt Şen offen zu: „In mindestens fünf oder sechs anderen Städten gab es schon ähnliche Gemälde von anderen Künstlern. Dass ausgerechnet das Frankfurter Bild ein so gewaltiges Medienecho auslöste, lag nicht zuletzt auch am geschickt gewählten Standort, glaubt Şen: Eine Hafenmauer in Sichtweite zur Europäischen Zentralbank. Symbole von Macht und Ohnmacht, ganz dicht beieinander.

Wandbild für die Opfer des Anschlags von Hanau an der Frankfurter Friedensbrücke, Image via dosenkunst.de

Als das Bild mehrfach beschädigt wurde, übermalten es seine Schöpfer ganz bewusst mit einem deutlich lieblicheren Motiv: der noch lebende Alan Kurdi, lachend und eingerahmt von Teddys. „Wir haben uns auch deshalb für ein kitschiges Motiv entschieden, um das Bild vor weiterer Zerstörung zu schützen.“ Mit dem dramatischen Schicksal von Flüchtlingen, die sich auf den Weg über das Mittelmeer machen, setzten sich Şen und Becker auch mit ihrem Bild „Floß der Medusa II“ auseinander. Bei dem auf eine riesige Leinwand gemalten Werk handelt es sich um eine Neuinterpretation des Gemäldes von Théodore Géricault. Schon bei dem Original aus dem Jahr 1818 ging es um eine Schiffskatastrophe.

Wir haben uns auch deshalb für ein kitschiges Motiv entschieden, um das Bild vor weiterer Zerstörung zu schützen.

Oğuz Şen

Şen ist in Frankfurt und in Berlin aufgewachsen. „Nach der siebten Klasse habe ich die Schule geschmissen, weil ich mein Leben frei und autonom gestalten wollte“, erinnert er sich. „Schule passte da einfach nicht ins Konzept.“ Bei einer Veranstaltung in der Frankfurter Technoszene, für die Şen die Wände in einem Raum gestaltete, lernte er den Professor Heiner Blum kennen, der an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung unterrichtet. „Heiner fragte, ob ich dort studieren will. Ich hielt das zunächst für einen Witz. Ich dachte: der Typ spinnt.“ Es brauchte dann noch einige Zeit, bis sich Şen schließlich an der HfG bewarb. Er wurde angekommen und studierte Visuelle Kommunikation.

An der HfG habe er gelernt, seinen Ideen die richtige Form zu geben. Die Ideen selbst entspringen dabei oft ganz alltäglichen Situationen. „Ich gebe euch ein Beispiel für meine Arbeitsweise“, sagt Şen. Er verschwindet kurz in der Ecke hinter seinem Regal, um mit einem Gemälde zurückzukehren. Das Motiv: Ein Pissoir auf einer Herrentoilette. „Das Bild habe ich einer Freundin zum Geburtstag geschenkt. Immer, wenn wir zusammen ausgegangen sind, hat sie darüber geschimpft, wie schmutzig doch die Damentoiletten sind und wie gerne sie deshalb manchmal ein Mann wäre.“ Der Clou: Die Gäste der Geburtstagsfeier durften es um Klosprüche und Kritzeleien ergänzen. „Setz dich, du Hund“ ist nun an einer Stelle zu lesen.

Foto: Neven Allgeier

Foto: Neven Allgeier
Foto: Neven Allgeier
Foto: Neven Allgeier

Seit einigen Jahren arbeitet Şen als Produktionsassistent für die renommierte Dance-Company „Wang Ramirez“, die ihren Sitz in Paris hat. Mit der Tänzerin und Choreografin Honji Wang ist er eng befreundet. Er verbringt viel Zeit in Frankreich. „In Deutschland werde ich wegen meinem Aussehen oder meinem Namen oft als Migrant markiert. In Frankreich ist das anders. Natürlich gibt es dort auch Ausgrenzung und Rassismus. Aber Herkunft spielt definitiv keine so große Rolle wie hier. Kultur ist dort auch nicht so sehr eine Frage von Bildung. Es gibt zum Beispiel unglaublich viele Theater, die ganz selbstverständlich von Menschen aus allen möglichen Gesellschaftsschichten besucht werden. Das gefällt mir.“

Bevor wir uns verabschieden, führt uns Şen noch kurz in das ehemalige Pförtnerhäuschen des Bürogebäudes: ein lichtdurchfluteter Raum, in dem sich das „Kollektiv ohne Namen“ hin und wieder trifft. Şen hat eine nordkoreanische Berglandschaft auf eine der rosa gestrichenen Wände gemalt. Die Parodie eines Propagandagemäldes: Vor imposanter Naturkulisse posieren nicht, wie im Original, die beiden Diktatoren Kim Il-sung und Kim Jong-il, sondern zwei Kinder von Bekannten. „Kinder sind die Zukunft“, sagt Şen.

Foto: Neven Allgeier

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