Wildnis

1. Nov. 2018 – 3. Feb. 2019

Henri Rousseau, Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope, 1898–1905 (Detail)

Bedrohte
Wildnis

Joachim Koester, Bialowieza Forest, 2001

Der Kampf um Europas letzten Urwald – mit dieser Schlagzeile in der Tagesschau vom 3. August 2017 erfuhr die Öffentlichkeit von der Bedrohung des letzten Stückchens europäischer Wildnis: dem Białowieża-Wald im Grenzgebiet zwischen Polen und Weißrussland. Der dänische Künstler Joachim Koester dokumentierte diesen letzten intakten Urwald Europas bereits 2001. Genau 15 Jahre später ist der Białowieża-Wald Schauplatz für das unheilvolle Zusammentreffen von Wildnis und Zivilisation – von Naturschutz und wirtschaftlichen Interessen. Im Auftrag der polnischen Regierung werden dort Bäume gefällt. Und obwohl der Europäische Gerichtshof 2017 einen sofortigen Abholzungsstopp in diesem Naturschutzgebiet erließ, ist die Gefahr noch nicht gebannt. Zu einer Zeit, in der es weltweit kaum noch unberührte Gebiete gibt, verkörpert der Białowieża-Wald einen unlösbaren Konflikt, der eng mit der Idee von Wildnis verbunden ist: Je mehr der Mensch durch seine vermeintlichen zivilisatorischen Errungenschaften die Natur verdrängt, desto stärker wird auch die Anziehungskraft von Wildnis.

Neben Joachim Koester haben sich noch andere Künstler mit „Wildnis“ auseinandergesetzt. Die Ausstellung in der SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT zeigt künstlerische Positionen, die sich mit verschiedenen Vorstellungen und Visionen von Wildnis beschäftigen. Dabei stellt sie einen Begriff zur Diskussion, der im Laufe der Geschichte als Projektionsfläche für wechselnde Gegenbilder und Sehnsuchtsfantasien jenseits der „kultivierten“ Welt diente.

Was ist
Wildnis?

Die einfachste Definition des Begriffs Wildnis orientiert sich am Menschen als Maß aller Dinge. Aus dessen Sicht handelt es sich vor allem um das Gegenteil von Zivilisation. Ein unbesiedeltes Gebiet. Eine unbebaute Landschaft. Eine unwegsame Vegetation. Wildnis hat sich dem Fortschritt noch nicht untergeordnet und bringt den Menschen aus seiner Komfortzone – manchmal durchaus in Lebensgefahr. Bis in das 17. Jahrhundert hinein war Wildnis noch ein unheilbringender und gefährlicher Ort. Erst im 18. Jahrhundert, unter dem Einfluss der Industrialisierung, wurde Wildnis zu einem Sehnsuchtsort, in dem man den Zwängen der Gesellschaft entfliehen konnte. Wildnis als Gegenbild zur Zivilisation – das gilt allerdings nicht für alle Regionen der Welt. So ziehen viele indigene Kulturen, die eng im Einklang mit der Natur leben, diese Grenze nicht. Wildnis wird damit auch ein Spiegel für die westliche Entfremdung von der Natur.

Wildnis als Life­style

Die Sehnsucht nach Wildnis ist wieder en vogue und unterwandert die Zivilisation. Das lassen zumindest die zahlreichen Inszenierungen von „unberührter” Natur in Werbung und Social Media vermuten. In vielen Lifestyle-Trends steckt der Wunsch, in unmittelbaren Kontakt mit der Natur zu treten – ein paradoxes Ansinnen.

Wildnis und
Wirklich­keit

Die moderne Fortschrittseuphorie bestimmte das Denken an der Wende zum 20. Jahrhundert. In einer Gegenbewegung begaben sich Künstler auf die Suche nach Ursprünglichkeit, die sie außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu finden glaubten. Die künstlerischen Darstellungen von Wildnis erwiesen sich jedoch als Konstrukte, in die Idealbilder und kulturelle Stereotype von fernen Naturlandschaften hineinprojiziert wurden.

 

 

Briton Rivière, Beyond Man‘s Footsteps, 1894

Eine menschenleere Gegend in der Arktis. Der Eisbär betrachtet in Ruhe das Panorama und den Abgrund, der sich vor ihm auftut. Auf den ersten Blick scheint Briton Rivière die Szene bis hin zum Sonnenuntergang naturgetreu wiederzugeben. Er hat sie jedoch so nie erlebt. Reiseberichte und Besuche im Zoologischen Garten des Londoner Regent’s Park dienten dem Künstler als Quellen für sein Gemälde „Beyond Man’s Footsteps“. Gleichzeitig greift er Versatzstücke einer romantischen Bildtradition auf. Dort wurde die Natur als überwältigende Gegenwelt zur Zivilisation dargestellt.

Der romantische
Blick

Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, um 1818

Wildnis wurde für die um 1800 einsetzende romantische Bewegung zum Inbegriff der Freiheit von den Zwängen einer an Technik und Rationalität orientierten Gesellschaft. Sie war ein Ort der Sehnsucht, in dem man die verloren geglaubte göttliche Ordnung neu erkennen konnte. Diese Sehnsucht veranlasste die Romantiker dazu, nach einer neuen Mythologie zu suchen. Den Kern ihrer religiösen Vorstellungen bildete der Glaube an das Unendliche. Dabei wurde das Einzelne als Teil des Ganzen und das Beschränkte als Ausdruck des Unbegrenzten betrachtet. Den Künstlern eröffnete das den Blick auf alles unerreichbar Ferne.

Caspar David Friedrichs Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, Prototyp eines romantischen Gemäldes, zeigt eine Naturmystik, in der sich religiöse Bezüge mit subjektiver Empfindung mischen. Der Mensch wird mit einer Berglandschaft konfrontiert, die sowohl unerreichbar fern als auch bedrohlich nah zu sein scheint. Das widersprüchliche Gefühl mündet im romantischen Konzept des Erhabenen in der Natur. Es sollte im Betrachter zugleich das Empfinden von Schönheit und Schrecken, aber auch Erstaunen und Ehrfurcht auslösen. Dieses Konzept wurde maßgeblich für die Naturvorstellung des 20. Jahrhunderts in der westlichen Kultur. Bis heute dient es noch häufig als Ausgangspunkt für die künstlerische Auseinandersetzung mit der Natur.

Henri Rousseau, Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope, 1898–1905

Der undurchdringliche Urwald in Henri Rousseaus „Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope“ zeigt eine andere Vorstellung von Wildnis. Die Jagdszene, die in Wirklichkeit in der offenen Savanne stattfinden würde, wurde hier in die Tiefen eines exotischen Waldes versetzt. Die flächige, scheinbar naive Malweise schafft eine unwirkliche Kulisse, in der die Fauna collagenhaft mit einer imaginären Flora in Verbindung tritt.

Ähnlich wie Rivière suchte Rousseau nicht in fernen Ländern nach künstlerischer Inspiration. Stattdessen fand auch er seine Motive in der populären Bildpresse – und im Pariser „Jardin des Plantes“. Die wilde Natur als Gegenbild zu einem geordneten Leben in einer europäischen Metropole nimmt in seinem Gemälde traumhafte Züge an.

Unberührte Natur

Darren Almond, Fullmoon@Cerro Chaltén, 2013

Jede große historische Forschungsreise musste nicht nur schriftlich, sondern visuell dokumentiert werden. Seit jeher haben Künstler Wissenschaftler auf ihren Expeditionen begleitet, um Zeichnungen, Gemälde und später auch Fotografien anfertigen zu lassen. Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten Künstler auf Expeditionen nicht mehr nur im Dienst der Wissenschaft. Sie unternahmen Reisen zunehmend in eigener Regie.

Thomas Struth, Paradise 21, Yuquehy, Brasilien, 2001

Die Fotografien von Thomas Struth sind ein Produkt seiner Reisen. Der brasilianische Urwald („Paradise 21, Yuquehy, Brasilien, 2001“) ist Teil einer Reihe von menschenleeren Naturlandschaften aus allen Kontinenten der Erde, die Struth aufgesucht hat. Wuchernde Ranken, sich auffächernde Blätter sowie unzählige Schattenwirkungen und Lichtwechsel zwischen den Bäumen entführen uns in die Mysterien des Waldes. Weiter eindringen können wir jedoch nicht. Die Natur auf dem Foto bleibt unberührbar. Ein melancholisches Unbehagen stellt sich ein: Angesichts einer zunehmend im Verschwinden begriffenen Welt „jenseits des Menschen“ ruft sie gleichzeitig paradiesische Assoziationen hervor.

Die Vorstellung von unberührter Natur als Paradies, die auch heute noch vorherrscht, hat weit in die Geschichte zurückreichende Wurzeln. Im Mittelalter war die kultivierte Natur der Klostergärten ein Symbol für das Paradies. Seit dem 17. Jahrhundert wurde der Garten Eden mehr einer Urlandschaft gleichgesetzt. Dort sollte der Mensch seine durch den kulturellen und technischen Fortschritt entstandene Entfremdung von der Natur überwinden können. Wichtige Voraussetzung für die ästhetische Aufwertung der Natur war die Auffassung der Urlandschaft als eine von Gott auf vollkommene Weise erschaffene Ordnung.

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Früher Natur­schutz
in den USA

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erkundeten Fotografen unberührte Naturregionen. In den Vereinigten Staaten von Amerika erlangten ihre Aufnahmen einen hohen Stellenwert, weil sie das politische Bewusstsein veränderten und einen Beitrag zur Erhaltung bedrohter Landschaften leisteten.

Carleton E. Watkins begann um 1860, die in der Pionierzeit neu erschlossenen Regionen des amerikanischen Westens zu fotografieren. Dabei inszenierte er die Landschaften bevorzugt menschenleer. Im Yosemite-Tal war dies ohne großen Aufwand möglich, da amerikanische Soldaten die dort lebenden Ureinwohner vor Jahren vertrieben hatten. Watkins Landschaftsfotografien waren atemberaubend. Sie überzeugten Abraham Lincoln schließlich davon, das Gebiet unter Naturschutz zu stellen: 1864 unterzeichnet der amerikanische Präsident das weltweit erste Gesetz seiner Art, das „Yosemite Land Grant Bill“. Es war die geheime Geburtsstunde der amerikanischen Nationalparkidee, die die Bundesbehörde 1872 in Yellowstone offiziell umsetzen sollte.

Ausschlaggebend war außerdem ein Meinungsumschwung im öffentlichen Bewusstsein – die Schrecken und Bedrohungen der Wildnis für die ersten europäischen Siedler wandelten sich in die Vorstellung einer schützenswerten Natur angesichts einer fortschreitenden Urbanisierung und Industrialisierung.

Die Bereitschaft zur Erhaltung großer unberührter Naturgebiete für die kommenden Generationen ist nicht nur ein Ausdruck von Patriotismus. Sie verweist auf die konstanten Grenzerfahrungen, die die noch junge amerikanische Nation während der Besiedlung des „Wilden Westens“ im 19. Jahrhundert machte. Der Begriff „Wildnis“ wurde von den Siedlern glorifiziert und sollte die Inbesitznahme des Landes der Ureinwohner rechtfertigten. Der Kampf gegen die „wilderness“, den viele von ihnen mit dem Leben bezahlten, gehört heute zum amerikanischen Nationalmythos.

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Carleton E. Watkins, Vernal Fall, Yosemite, 1865–66

Berg­land­schaft
als Illusi­on

Julian Charrière thematisiert in seinen Arbeiten die Ambivalenz von Natur und Kultur. Er geht der Frage nach, mit welchen künstlerischen Mitteln den Überlagerungen und Widersprüchen zwischen Bildrealität und unserer Lebenswirklichkeit nachgespürt werden kann.

Julian Charrière, Panorama - 52.30.01.48N - 13.22.19.95E, 2011

Der gebürtige Schweizer stellt ein Symbol kultureller Identität in den Mittelpunkt seiner „Panorama“-Serie. Schneebedeckte Gipfel erheben sich romantisch aus nebligen Tälern. Bei genauerem Hinsehen landet der Betrachter jedoch in der rauen Wirklichkeit: Der Künstler kreierte die majestätischen Berglandschaften aus Erdhaufen und Mehl auf einer Baustelle in Berlin, die er anschließend fotografisch festhielt. Dabei hinterfragt Charrière nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch unsere Vorstellung von Naturlandschaften, die wir oft vorschnell als Idylle bezeichnen.

Wildnis als Erfahrung

GUN (Group Ultra Niigata), Event to Change the Image of Snow, 1970, Foto: Hanaga Mitsutoshi

Immer wieder beschäftigen sich Künstler mit Wildnis als einem Ort, der unberechenbar ist und der die ästhetische Wahrnehmung verändert. Die unberührte Natur wurde dabei oft selbst zur permanenten künstlerischen Wirkungsstätte jenseits der etablierten Kunstzentren.

Georgia O’Keeffe, From the Plains II, 1954

Die Gemälde von Georgia O’Keeffe sind erfüllt vom Glauben an die Kraft und Unvergänglichkeit der Natur. Die täglichen Erfahrungen der weiten Ebenen von Texas bei Sonnenuntergang inspirierten die Künstlerin zu „From the Plains II“. O’Keeffe gelingt es, die beeindruckende Weite dieser kargen Landschaft und das dramatische Lichtschauspiel in Form und Farbe zu bannen. Die texanische Wüste wird dabei zum sinnlichen Erfahrungsraum. Die Abstrahierung der Formen und die Verwendung der unvermischten Farben Rot, Gelb und Orange dienen der Akzentuierung und Verwandlung. Formbares und Ungeformtes, Fassbares und Unfassbares fließen harmonisch ineinander.

Einzelgän­gerin
in der ­Wüste

Ansel Adams, O'Keeffe and Carcass, Ghost Ranch, New Mexico, 1937

Die hoch gelegene Wüstenlandschaft New Mexicos mit ihrem intensiven Licht war jahrelang eine der wichtigsten Inspirationsquellen für Georgia O’Keeffe. Die US-Amerikanerin bereiste mehrmals diese Region und verlegte im Jahr 1949 als über Sechzigjährige sogar ihren Wohnsitz dorthin.

In ihren Gemälden widmete sich O’Keeffe mit großer Hingabe den Motiven, die sie hier vorfand: architektonische Formen, zerklüftete Berge und Felsen. Die Künstlerin sammelte von der Sonne gebleichte Stier- und Hirschschädel mit Geweihen und Eselsknochen und integrierte diese Motive in ihre Werke. Mit ihrem zurückgezogenen Leben auf ihrer Farm – der „Ghost Ranch“ – verkörpert sie das Bild der Pionierfrau und „Einzelgängerin in der Wüste“. Auf dem Foto von Ansel Adams, ihrem langjährigen Freund, inszeniert sie sich in diesem Sinne.

„Meine erste Erinnerung
ist die Helligkeit des Lichts
− rundherum Licht.“

Georgia O’Keeffe, 1976

Versu­chs-
anord­nungen

Seit den 1960er-Jahren macht der Land-Art-Künstler Richard Long die Weiten der Natur zum Schauplatz seiner Interventionen. Tage- und wochenlange Fußmärsche gehören dabei zum festen Bestandteil seiner künstlerischen Praxis.

Richard Long erwandert sich unwirtliche Landschaften, die nicht durch Verkehrswege erschlossen sind und keine Spuren von Zivilisation aufweisen. An diesen Orten komponiert der Künstler Linien-, Spiral-, Kreuz-, Ellipsen- oder Kreisformen und setzt der wilden Natur präzise Anordnungen entgegen, die er abschließend fotografiert. Die Bewegung des eigenen Körpers in der Landschaft sowie die dafür erforderliche Zeit nutzt er dabei als Maßstab für seine vergängliche Kunst.

Richard Long, Parnassus Line Along a Six Day Walk, Greece, 2002

Geröllsteine sind zu einer Linie zusammengelegt. Sie bietet Orientierung in der Landschaft und gibt uns eine klare Richtung vor, indem unser Blick die Anordnung nachvollzieht. Der Künstler realisierte sein Werk auf dem Parnass, einem hohen Gebirgsstock in Zentralgriechenland, dem mythologischen Sitz der Kunst in der Antike.

„Mein Werk ist real,
nicht imaginär oder rein
intellektuell.
Ich arbeite mit
der Welt,
so wie ich sie vorfinde.“

Richard Long

Land
Art

Angetrieben vom Bestreben, die Grenzen des etablierten Kunstbetriebes aufzubrechen, suchten US-amerikanische Künstler Ende der 1960er-Jahre nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten außerhalb des Galerieraumes. Sie verließen ihre Ateliers, um sich von den Wüsten des amerikanischen Südwestens oder abgelegenen Industriebrachen inspirieren zu lassen. Die Verbindung von Kunst und Naturerfahrung führte zur Entwicklung der Land Art: einer Richtung, in der der geographische Raum selbst zum Ausgangsmaterial und zum Ausstellungsraum künstlerischer Gestaltung wurde.

Für viele Land-Art-Künstler gehörten Reisen und Expeditionen ebenso zum Schaffensprozess wie der plakative Umbau oder die demonstrative Eroberung der Natur. Der Brite Richard Long hatte ein anderes Anliegen. Als er die Fotos veröffentlichte, waren die Spuren bereits verwittert oder von ihm selbst entfernt. Seine durch Gehen entstandene Kunst verweist einerseits auf die Nichtigkeit des Menschen und andererseits auf die schöpferische Möglichkeit, selbst in der Wildnis Spuren zu hinterlassen.

Eine neue
kultu­relle
Dimen­sion

Ihre Skepsis gegenüber der westlichen Fortschrittshörigkeit brachte Künstler in den 1960er- und 1970er-Jahren dazu, mit alternativen ästhetischen Erfahrungen zu experimentieren. Das ging einher mit einer Neugier, in die Spiritualität und Naturverbundenheit sogenannter primitiver Kulturen einzutauchen.

Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss führte 1962 den Begriff des „wilden Denkens“ ein. Damit bezeichnete er die Denkweisen archaischer Kulturen, die im Einklang mit der Natur leben und von ganzheitlichen und mythischen Weltanschauungen geprägt sind. Das „wilde Denken“ als Gegenentwurf zur wissenschaftlich-objektiven Ausrichtung des Westens wurde prägend für die neue Form der Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen in der Kunst dieser Zeit.

Die Arbeiten von Ana Mendieta stehen im Geiste des „wilden Denkens“, das die Ordnungssysteme von indigenen Völkern und abendländischen Gesellschaften als gleichwertig betrachtet. Mendieta setzt Lebewesen und Naturerscheinungen in eine magische Beziehung, so wie sie es in den religiösen Kulten ihres Heimatlandes Kuba selbst erfahren hat.

Ana Mendieta, Silueta Works in Iowa, 1976–78

Ana Mendieta hebt die Trennung zwischen Mensch und Natur auf, indem ihr eigener Körper mit der Landschaft eine symbiotische Verbindung eingeht. Das Foto – aufgenommen in Iowa (USA) – deutet auch den Versuch der Exil-Kubanerin an, das Gefühl ihrer kulturellen Entwurzelung zu überwinden.

„Ich werde zu einer Verlängerung
der Natur und die
Natur wird
zu einer Verläng­erung meines Körpers.“

Ana Mendieta

Wildnis und Menschen

Richard Oelze, Archaisches Fragment, 1935

Undurchdringlich scheint das Dickicht aus wuchernden Blättern. Ein grüner Vogelmensch durchforstet den dichten Dschungel. Folgt er seiner Begierde, die sich auf die Frau im Gebüsch richtet?

Max Ernst, Natur im Morgenlicht, 1936

Das unbekannte Gebiet der menschlichen Seele und die inneren Abgründe – dies zu erkunden, war ein zentrales Anliegen von Max Ernst und seinen surrealistischen Weggefährten. Unter dem Eindruck der noch jungen Disziplin der Psychoanalyse widmeten sie sich ab den 1920er-Jahren der Erforschung der menschlichen Triebe. Aus ihrer Sicht galt es, die von Zivilisation und Konventionen unterdrückten Begierden, also die „innere Wildnis“ wieder freizulegen. Dazu erforschten sie ihre eigenen Träume und Erinnerungen durch kreative Techniken wie „Automatisches Schreiben“, Hypnose oder Trancezustände. Max Ernsts dunkles Vogelwesen könnte den Künstler selbst symbolisieren, das Dickicht seine Psyche – die kauernde nackte Frau am rechten Bildrand weckt seine Begierde, und so versucht er, zu ihr vorzudringen.

„Ich male wie
ein Affe.

Die Affenphase
zieht sich durch mein
ganzes Schaffen."

Karel Appel, 1990

Das Primitive
in der
Malerei

Wilde Pinselstriche und laute Farben formen impulsiv eine menschliche Gestalt. Sie erscheint so animalisch und flüchtig wie die Malweise, mit der sie geschaffen wurde.

Karel Appels schemenhafte Figur verweigert sich einer klaren Deutung. Einerseits wirkt der „Wild Boy“ kindlich-naiv, andererseits geht von ihm eine gewisse Aggression aus. Es bleibt unklar, wer er ist und woher er kommt. Seine groben Züge wecken, wie auch die unvermischten Farben, Assoziationen an künstlerische Ausdrucksformen primitiver Gesellschaften. Aber seine stilisierte Uniform erinnert auch an Schulkinder, denen Appel in Deutschland begegnete.

Appel gehörte der Gruppe CoBrA an. In ihren künstlerischen Manifesten forderte sie u. a. die Aufarbeitung der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, die an anderen Völkern im Namen der westlichen Zivilisation verübt worden waren. Der Künstler stellt mit dem 1953 geschaffenen Werk die in unserer Weltanschauung üblichen Grenzen zwischen „Kultur“ und „Barbarei“ infrage.

Karel Appel, The Wild Boy, 1954

Künstler­gruppe
CoBrA

1948 gründen Autodidakten in Paris eine Künstlergruppe, die sich nach den Anfangsbuchstaben ihrer Heimatstädte benennt: Copenhagen, Brussels und Amsterdam. Die beteiligten Künstler wollen, ausgehend von den verheerenden Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und der kolonialen Vergangenheit ihrer Heimatländer, neue künstlerische und gesellschaftliche Gegenpositionen einnehmen. Sie kritisieren die im Westen vorherrschenden ästhetischen und kulturellen Normen und wenden sich ursprünglichen, archaischen Kulturen zu. Zu den von CoBrA vorherrschend verwendeten künstlerischen Motiven gehören kindlich-naive oder primitiv erscheinende Figuren und Lebewesen.

Wildnis
in den
Städten

Mark Dion, Mobile Wilderness Unit – Wolf, 2006

Heute keine Lust, in den Wald zu gehen? Mark Dions gesellschaftskritische Installation kommentiert ironisch unsere Idee von Natur. Diese ist zum kalkulierbaren Faktor geworden. Selbst der Wolf stellt keine Bedrohung mehr dar. Stattdessen weisen wir ihm in unseren urbanen Jagdgebieten ein Reservat zu. Auf einem Anhänger platziert, lässt sich Wildnis rund um die Uhr nach Hause liefern – ähnlich wie eine Pizza oder Waren aus einem Online-Shop. Der Mensch hat alles im Griff!

Pieter Hugo, The Hyena Men of Abuja, Lagos, Nigeria, 2007

Wildnis als seltene Attraktion in den Städten Nigerias: Einmal im Jahr veranstalten Performer mit furchteinflößenden Hyänen eine Show aus Tanz und Tierdressur. Dadurch werben sie für ihre selbst hergestellten Medikamente und Kräuter. Die „Hyena Men“, eigentlich Bauern der Savanne, leben in einer Art Co-Existenz mit ihren Tieren – beide sind aufeinander angewiesen, aber mit dem Menschen als bestimmendem Faktor. Durch das Präsentieren wilder Tiere in den Städten verdienen die Männer ihren Lebensunterhalt.

Künstliche Wildnis

Julian Charrière, Metamorphism (Detail), 2016

Durch eine virtuell geschaffene Wildnis bewegt sich ein Geschöpf. Es reagiert wie fremdgesteuert auf bestimmte Einflüsse der Außenwelt. Handelt es sich um eine intelligente Kreatur? Hat sie eine eigene Identität? Hat sie ein Bewusstsein?

Ian Cheng, Something Thinking of You, 2015

Das gesichtslose Wesen in Ian Chengs Simulation „Something Thinking of You“ hat etwas Befremdliches und Irritierendes, weil wir es nicht einordnen können. Es streift in Echtzeit durch ein virtuelles Ökosystem ohne Menschen oder Tiere. Diese Welt, in der sich die Grenze zwischen Natur, Mensch, Tier und Technik scheinbar aufgelöst hat, trägt postapokalyptische Züge. Die Kreatur trifft ihre Entscheidungen aufgrund von grundlegenden Emotionen wie Langeweile, Spieltrieb, Ruhebedürfnis oder Hunger sowie äußeren Einflüssen wie Jahreszeiten, Klima oder ihrer unmittelbaren Umgebung. Für den Betrachter – aber auch den Künstler – sind ihre nächsten Schritte unvorhersehbar. Die Simulation ist so programmiert, dass sie sich von selbst immer weiter schreibt. Ian Chen schuf diese Fantasiewelten, um zu demonstrieren, dass Künstliche Intelligenz im Zeitalter des Anthropozän durchaus ohne den Menschen agieren kann.

Erdzeitalter
Anthro­pozän

In der Erdgeschichte ist der Mensch mittlerweile zu einem der wichtigsten und entscheidendsten Einflussfaktoren geworden. Die negativen Auswirkungen lassen sich am Klimawandel, an der Umweltverschmutzung und am Artensterben festmachen. Daher wäre es für viele Wissenschaftler nur konsequent, ein neues Zeitalter auszurufen, das „Anthropozän“ – in Abgrenzung zur vorangehenden Epoche „Holozän“, die etwa 9.700 Jahre v. Chr. mit der Erwärmung des Planeten nach der letzten großen Eiszeit beginnt. Das Wort setzt sich aus den altgriechischen Begriffen für „Mensch“ (ánthropos) und „neu“ (kainós) zusammen. Über den Startpunkt dieses Zeitalters ist man sich allerdings noch uneins. Vorschläge reichen von 1800 – den Anfängen der Industrialisierung – bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts – dem Beginn der Nutzung von Atomenergie.

Täuschend
echt

Die fiktiven Pflanzen werden durch ihre wissenschaftlich wirkende Inszenierung zur glaubwürdigen Realität. Fundstücke am Wegesrand von Industriegebieten und Abfall setzt Joan Fontcuberta zu exotischen Gebilden zusammen, sodass sie wie echte Gewächse aussehen.

Aufgefundene Artefakte der Wegwerfgesellschaft erblühen neu als florale Gebilde. Sie wirken vertraut und doch geheimnisvoll. „Pseudopflanzen“ nennt der Künstler sie. Er fotografiert sie streng in Schwarz-Weiß, als sei er ein Botaniker, der formal wie ein Wissenschaftler vorgeht. Jeder Pflanze gibt er einen lateinischen Namen, die sich auf ihre Bestandteile bezieht. Die exotischen Gewächse kommentieren ironisch das Zeitalter der Genmanipulation und der Umweltverschmutzung, denn ohne den menschlichen Eingriff in die Natur würden sie nicht existieren.

Joan Fontcuberta, Brahypoda Frustrata, aus der Serie Herbarium, 1984

Auf in die Wildnis!

Gerhard Richter, Tiger, 1965

Nach dieser kurzen Entdeckungsreise sind Sie bestens vorbereitet, um die SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT zu erkunden. Die umfassende Themenausstellung beleuchtet und hinterfragt die anhaltende Faszinationskraft des Begriffs Wildnis, der sich jedem Versuch entzieht, sie in ein Werk oder in eine Ausstellung zu bannen. Entdecken Sie Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Videoarbeiten, Skulpturen und Installationen von rund 30 Künstlerinnen und Künstlern von 1900 bis zur Gegenwart.

Geheim­tipp
Kunst oder
Alchimie?

Hicham Berrada, Ghost #1, seit 2013

Die Werke von Hicham Berrada sind an der Grenze von Kunst und Wissenschaft angesiedelt. „Ghost #1“ gleicht einer brodelnden Landschaft, in der alles in Bewegung gerät und sich neu formiert. Der Künstler agiert wie ein Maler, der mit chemischen Elementen außerhalb des Labors „lebende Kunstwerke“ erschafft. Die alchimistisch anmutende Bildhaftigkeit ruft einerseits Assoziationen mit der Entstehung der Natur „vor dem Menschen“ und andererseits mit postapokalyptischen Visionen einer Welt „nach dem Menschen“ hervor.

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