Bertram Weisshaar erforscht als Spaziergangwissenschaftler die Stadt aus Fußgängerperspektive. Wir sprachen mit ihm über die Fortbewegung, die seit der Pandemie immer mehr Zuspruch bekommt.

Herr Weisshaar, was war ihr bisher schönster Spaziergang?

Eine schwierige Frage. Am herausragendsten waren die Spaziergänge in der Tagebaulandschaft Golpa-Nord, auch „Ferropolis“ genannt. Auf dem Grund der Tagebaugrube, die später geflutet wurde. Drei oder vier Jahre lang habe ich dort geführte Spaziergänge angeboten. Das war so außergewöhnlich, etwas derartiges hab ich seitdem nicht mehr erlebt.

Was macht für Sie einen guten Spaziergang aus?

Vielleicht, dass man ganz woanders ankommt, als man es sich vorgenommen hatte. Weil man zum Beispiel unterwegs den Impuls hatte, eine bestimmte Richtung einzuschlagen und sich davon leiten lässt, was sich unterwegs ereignet. In dem Zusammenhang kann man auch überlegen, welche Gegenden eigentlich für Spaziergänge gewählt werden; meistens sind es Parks, die Fußgängerzone oder der Dorfrand. Dann gibt es Bereiche, durch die man seltener läuft: Durch das Gewerbegebiet, entlang der Kläranlage oder der Autobahn zum Beispiel. Die Spaziergangwissenschaft ist der Meinung, dass es sich aber sogar lohnt, dort einmal entlang zu gehen. Denn über das Gehen bekommt man ein repräsentatives Bild von der Welt, in der man lebt – und diese Orte gehören nun mal dazu.

Bertram Weisshaar, Foto: Thomas Eichler

Spazieren Sie lieber in der Stadt oder durch die Natur?

Spannend finde ich die Gegenden, in denen man gar nicht genau definieren kann, was genau es jetzt ist: Stadt oder Natur? Hier in Leipzig gibt es viele Orte, von denen man sowohl sagen könnte, man ist in der Stadt, als auch schon in der Landschaft.

Zu gehen oder zu spazieren ist eine bewusste Entscheidung, vielleicht auch gegen andere Verkehrsmittel. Was fasziniert Sie überhaupt daran?

Das Gehen führt am dichtesten an die Welt heran. Die Art und Weise, wie wir uns bewegen, bedingt auch unsere Wahrnehmung und unser Verständnis der Umgebung. Sobald ich ein Verkehrsmittel benutzte, bin ich auf die Wege angewiesen, die dieses Verkehrsmittel benutzt und benutzen darf; mit dem Fahrrad komme ich fast überall hin, aber manche Wege lassen sich nur zu Fuß zurücklegen. Mit dem Auto muss ich auf der Straße fahren und im ICE rauscht alles viel zu schnell an mir vorbei. Gehend haben wir die Geschwindigkeit, die uns angeboren ist, das Gehirn kann mit den Sinneseindrücken Schritt halten; je schneller wir uns aber fortbewegen, desto mehr Sinneseindrücke muss man übersehen, damit man überhaupt noch etwas wahrnehmen kann. Gehen hingegen ist sinnlich und unmittelbar.

In ihrem Buch „Einfach losgehen“ schreiben Sie: „Eine durch Spazieren gewonnene Erkenntnis ist von hohem Wert.“ Warum lässt es sich beim Gehen leichter denken? Wieso hat man die besten Ideen unter der Dusche oder beim Spazieren?

Gehirnforscher sagen, dass die rechte Gehirnhälfte die linke steuert und umgekehrt, ohne dass wir etwas dafür tun müssen. Beim Gehen werden beide angesprochen und wir befinden uns in einem Zustand, der neue Verknüpfungen im Gehirn begünstigt. Eine andere Erklärung ist, dass man beim Gehen nicht arbeiten kann, also lesen oder etwas aufschreiben. Aber man kann verarbeiten, was über den Tag alles passiert ist. Wenn man nicht unter einem Ergebnisdruck steht, denkt man wahrscheinlich etwas lockerer: Was vorher ein Knoten im Kopf war, kann sich jetzt lösen.

Sie haben an der Universität Kassel „Spaziergangwissenschaften“ studiert. Was muss man sich darunter vorstellen? Was erforscht man dort?

Die Spaziergangwissenschaft wurde Mitte der 1980er in Kassel von Lucius Burkhardt entwickelt, als Teil der Abteilung für Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung. Im Grunde genommen geht es darum, wie wir die Stadt wahrnehmen, wenn wir zu Fuß durch sie gehen. Bei Planungen in der Architektur geht es ja immer um Raum, um die dreidimensionalen Elemente darin und die Geschwindigkeit, mit der wir uns dort bewegen. Um die räumlichen Zusammenhänge einer Stadt zu verstehen, muss man in ihr unterwegs sein; es reicht nicht, Bücher darüber zu lesen. Was zum Beispiel an einer Straßenkreuzung abläuft, kann man gar nicht alles in eine Karte einzeichnen, man muss es vor Ort studieren.

Die Spaziergangwissenschaft gehört zum Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung. Wird sie in diesen Bereichen berücksichtig? Fußgänger haben ja eine eher kleine Lobby.

Das ist richtig – aber sie wächst! Es gibt zum Beispiel den Verein „Fuss e.V.“, bei dem ich aktiv bin. Er hat das Projekt „Gut gehen lassen – Bündnis für attraktiven Fußverkehr“ ins Leben gerufen, an dem sich Städte beteiligen können. Hier in Leipzig treffen wir uns einmal im Jahr mit dem Oberbürgermeister zu einem Spaziergang durch die Stadt und schauen sie uns aus der Perspektive der Fußgänger an. Das ist wichtig, weil die Rathausspitze natürlich die meiste Zeit mit dem Auto fährt.

Parkanlagen in Leipzig, image via l-iz.de

Nehmen wir als Beispiel Leipzig, wo Sie leben: Wie fußgängerfreundlich ist diese Stadt?

Die Stadt ist überwiegend zwischen 1870 und 1930 entstanden, sie ist sehr kompakt. Häufig gibt es gründerzeitliche Architektur mit breiten Straßen und Fußgängerwegen. In den meisten Gegenden kann man deshalb sehr gut gehen. Ein großes Problem ist aber der Sanierungsstau bei den Gehwegen: wenn eine Straße erneuert wird, dann meistens nur die Fahrbahn, die Gehwege aber nicht. Das ist leider in vielen Städten so. In den letzten zehn Jahren ist Leipzig außerdem sehr stark gewachsen und es sind immer mehr PKWs auf den Straßen, es wird auch häufiger auf den Gehwegen geparkt.

Was müsste eine Stadt haben, damit sie optimal zum Spazierengehen wäre?

Seit der Pandemie haben viele das Spazierengehen für sich entdeckt. Weil jetzt mehr Menschen draußen sind und Abstand halten, wird deutlich, wie eng die Gehwege eigentlich sind und dass die Stadtparks total überfüllt sind. Im Umkehrschluss heißt das, dass wir zu wenig Grünflächen haben. Hier in Leipzig wurde die Bevölkerung teilweise gebeten, sonntags nicht in die Parks zu gehen, weil es einfach zu voll wurde. Das ist doch ein Armutszeugnis! Das hat aber langsam zu einem Umdenken geführt; vor Jahren wurde immer über den Parkplatzmangel gejammert, jetzt wird die Forderung nach mehr Platz für Fußgänger laut.

Nach zwei Jahren Pandemie sind viele dem Spazierengehen überdrüssig, im Feuilleton erscheinen genervte Texte dazu. Wie sehr hat das Image dieser Form der Fortbewegung ihrer Meinung nach gelitten?

Ich bin der Meinung, dass das Image eher besser geworden ist. Es gibt natürlich einige, die sich darüber beschweren, dass sie immer dieselbe Runde durch ihr Viertel laufen. Aber sogar Jugendliche treffen sich, um spazieren zu gehen. Viele Menschen haben bemerkt, dass man sich auf einen Spaziergang nicht vorbereiten muss – und ich denke, dass sie das auch beibehalten werden. Nicht zuletzt hat Gehen noch einen positiven Effekt: Wenn man täglich viel läuft, tut man ganz beiläufig etwas Gutes für seine Gesundheit.

WALK!

18. Februar bis 22. Mai 2022

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