Eine Ausstellung in den Opelvillen Rüsselsheim zeigt, wie eine DDR-Frauenzeitschrift zur Schaubühne der Avantgarde-Fotografie in der DDR wurde.

Der Reiz der Modezeitschrift lag schon immer, kein Geheimnis, auch in der Zurschaustellung von Warenwelten, zu der die übliche Leserin, der übliche Leser für gewöhnlich keinen Zugang hat. Sie war und, nimmt man ihre Online-Pendants hinzu, ist Fenster ins bessere Leben, in dem jederzeit ein Stoß Flitter durch die erwartungsgeladene Luft regnen könnte – die man sich, wie all die hübschen Kleider und Taschen, Schleifen im Haar und Editions-Sneaker an den Füßen, erstmal leisten können muss.

Arno Fischer, Berlin, 1962 © Erbengemeinschaft Arno Fischer

In der Zeitschrift „Sibylle“ waren jene Welten allerdings auch mit viel Geld nicht erreichbar: Die in den Heften vorgestellten Modelle konnten von den Leserinnen oft überhaupt nicht gekauft werden, stammten entweder aus dem mehrere Landesgrenzen entfernten Paris oder waren ganz und gar ausschließlich für die Fotostrecken selbst angefertigt worden. Und das ist nicht das Einzige, was die „Zeitschrift für Mode und Kultur“ zur wohl außergewöhnlichsten in der DDR machte.

Weit über die DDR hinaus

1956 wird die Frauen- und Modezeitschrift von Namensgeberin Sibylle Boden-Gerstner gegründet. Sie erscheint sechsmal pro Jahr im Leipziger Verlag für die Frau, die Auflage ist mit rund 200.000 Exemplaren für die Magazinform vergleichsweise niedrig. Neben erwartbaren Inhalten einer Frauenzeitschrift der 50er-Jahre mit ihren Ratgeber-Artikeln enthält „Sibylle“ von Anfang an besagte Modestrecken, die weit über die engen DDR-Grenzen hinausweisen.

Werner Mahler, Elke und Angela, Wrietzen/Biesdorf, 1981 © Werner Mahler

Zum ersten Mal werden diese Fotografien nun in einer großen Ausstellung angemessen gewürdigt und gewissermaßen auf ihren Avantgarde-Charakter hin überprüft. Ende des letzten Jahres war die Schau in Rostock zu sehen, jetzt wird sie von den Rüsselsheimer Opelvillen in eigener Form präsentiert: Im Fokus werden dabei, der Ausstellungstitel kündet davon, die Fotografen stehen. Abfolgen und Entwicklungen sollen durch die chronologische Hängung sichtbar werden, erklärt Direktorin Dr. Beate Kemfert, die die Ausstellung kuratiert hat.

Modefotografie künstlerisch ambitioniert

Große Namen wie Arno Fischer und Sibylle Bergemann sind dabei, Günter Rössler, Elisabeth Meinke und Roger Melis, Michael Weidt, Wolfgang Wandelt, Rudolf Schäfer, Ute und Werner Mahler, Ulrich Wüst, Hans Praefke und Sven Marquardt; einige von ihnen gründen später die berühmte Fotoagentur Ostkreuz. In einem Interview mit der „taz“ stellte Sibylle Bergemann einst die künstlerischen Freiheiten heraus, die ihre Arbeit für die Zeitschrift mit sich brachte – Fotostrecken wurden vollständig und unbearbeitet genau so veröffentlicht, wie sie abgeliefert wurden. „Die Sibylle wurde durch Fischer und Bergemann zum Experimentierfeld, “ erklärt auch Dr. Kemfert. Beide zeigten, wie sich die Modefotografie künstlerisch ambitioniert interpretieren lässt.

Ute Mahler, Martina und Maren, Lehnitz, 1984 © Ute Mahler
Günter Rössler, Gisela, Plovdiv, 1968 © Günter Rössler

Die Arbeit der Fotografen war von Ambivalenz geprägt: Redaktionelle Vorgaben gab es wenige bis keine, und für eigene Ideen vom Setting über fotografische Experimente bis zur Anfertigung nie im Geschäft erhältlicher Mode allein fürs Shooting war immer Platz.  Im Hintergrund schwebte gleichwohl die große Klammer der Staatsideologie, in die sich auch die „Sibylle“ einzupassen hatte: Nicht Konsum, sondern Kultur und sozialistische Lebensführung sollten stimuliert werden – dass sehr wohl auch Modestrecken mit nicht erhältlichen Waren Wünsche und Begehrlichkeiten des Konsums ausdrücken, schien der Staatszensur dabei entweder nicht aufzufallen oder im Gesamtkontext dann doch egal zu sein. Fest steht, dass die Fotografen der „Sibylle“ bisweilen mehr Freiheiten genossen als andere.

Das Leben abbildend, wie es ist

Auch das stimmt: Mit den verführerisch inszenierten Modestrecken, in denen Waren wie Menschen gleichermaßen den Reflex des Habenwollens auslösen sollen, haben die „Sibylle“-Fotografien wenig gemein. So unterschiedlich die Handschriften der jeweiligen Fotografen, die sich in Motiven wie Bergemanns fesch gekleideten Frauen auf Treppenstufen und vorm Zirkuszelt, in Ulrich Wüsts grafisch-minimalistischer Bildsprache oder in Günter Rösslers ebenso farbigem wie schlicht gehaltenem Cover spiegeln, so sehr sind jene von einer ähnlichen Tradition der sozial engagierten Dokumentarfotografie geprägt – auch wenn sich jene eigentlich radikal beißen muss mit jeder Form der Inszenierung, wie sie auch in der noch so um Natürlichkeit bemühten Modestrecke obligatorisch ist: Das Leben abbildend, wie es ist, was auch immer das konkret heißen mag; sich den nüchternen Blick bewahrend und darauf vertrauend, dass durch eine unvoreingenommene Darstellung der Wirklichkeit sich erst Erkenntnisse über jene gewinnen ließen.

Sven Marquardt, ohne Titel, ohne Jahr © Sven Marquardt

Entsprechend werden die Frauen in der „Sibylle“ seltener lächelnd porträtiert (was den Staatsorganen nicht so gut gefällt), aber durchweg selbstbewusst, eigenständig, und an Orten, die in der Deutschen Demokratischen Republik an natürlichen Umgebungen zur Verfügung standen: In Fabriken, am Arbeitsplatz, auf der Straße. Insofern sind die Fotografen der „Sibylle ‒ Zeitschrift für Mode und Kultur“ ein Stück weit auch zu Dokumentaristen der DDR-Lebensrealitäten mit künstlerischen Mitteln geworden. Einschließlich jener Traumwelten, die nur hier existieren konnten. Und einschließlich dem, was nicht zu sehen ist, weil es nicht gewollt oder schlichtweg nicht vorhanden war.

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