Anfang Oktober laden die Zollamt Studios zu zwei Open House-Tagen ein. Nicht verpassen!

Michelle Concepción ist Perfektionistin. Zumindest, wenn es um ihre Arbeit geht. In ihrem Atelier in den Offenbacher Zollamt Studios stecken Pinsel ordentlich in Gläsern. Spritzen, Pinzetten und Zahnarzt-Werkzeuge sind akkurat in Kästen, ihre Gemälde in beschrifteten Kartons im Regal verstaut. Ein paar ihrer aktuellen Arbeiten hängen an den Wänden: Acrylmalereien, die an Abbildungen von Mikroorganismen erinnern. „Ich war schon immer fasziniert von organischen Formen, ihrer Schönheit und Magie“, sagt sie. Ihre Bilder scheinen zelluläre Baupläne des Lebens zu zeigen, vergrößert unter einem Mikroskop – oder unendlich verkleinert.

Michelle Concepción gehört zu den Kreativen, die in einem der 52 Räume der Zollamt Studios eine neue Heimat gefunden haben. Vor etwas mehr als einem Jahr eröffnete das Künstlerhaus in der Offenbacher Innenstadt in einem ehemaligen 50er-Jahre-Verwaltungsbau, der jahrelang leer stand. Die Gemeinnützige Baugesellschaft Offenbach hat das Projekt gemeinsam mit der Stadt ins Leben gerufen, um Künstlern und Kreativen bezahlbare Atelier- und Büroräume zur Verfügung zu stellen. Im Beirat sitzen unter anderem der HfG-Professor Heiner Blum, die Künstlerin Anny Öztürk, die gemeinsam mit ihrer Schwester Sibel auch ein Atelier in den Zollamt Studios hat und Loimi Brautmann, der hier seine Kommunikationsagentur Urban Media Project betreibt. Aus über 80 Bewerbungen wählte der Beirat die heutigen Mieter aus. „Wir wollten ein Gleichgewicht zwischen den Disziplinen Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Bewegtbild und Sound herstellen – wir haben allein acht Techno- und Elektro-Produzenten hier, die das Institut für Klangforschung bilden. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Interdisziplinäre“, erzählt Loimi Brautmann.

Michelle Concepcion, © Peter Voigt

Wir wollten ein Gleich­ge­wicht zwischen den Diszi­plinen Bildende Kunst, Ange­wandte Kunst, Bewegt­bild und Sound herstellen

Urban Media Projekt, © Jessi Schäfer
Porträt Karl H. Thiel, © Jan Höft

Ich zeichne eine Linie und die anderen kommen einfach dazu.

Im ersten Jahr ist bereits viel passiert. Spricht man mit den Künstlern, Designern, Musikern, DJs, Filmemachern und Theaterschaffenden, fällt immer wieder das Wort „Synergien“. Nun wollen sich die Mieter der Zollamt Studios an zwei „Open House“-Tagen der Öffentlichkeit präsentieren: Studios, Büros und Ateliers stehen offen. Außerdem finden Führungen und ein Konzert statt. In der Galerie im Erdgeschoss wird die „Inside Zollamt“-Ausstellung gezeigt, die Max Pauer von der Frankfurter Galerie 1822 kuratiert. „Mein Ziel ist es, die Vielfalt des Hauses in der Schau abzubilden“, sagt Pauer. Deshalb gibt es neben Gemälden von Michelle Concepción auch Installationen von Rosa Schmieg und Lukas Sünder sowie animierte Musikvideos des Filmemacher-Kollektivs „Die Faust“ zu sehen – und den Dauerliveauftritt des Musikers Stefan Harth zu hören. David Schiesser, der an der HfG Kunst studiert und in den Zollamt Studios ein etwas anderes Tattoo Studio betreibt, präsentiert seine Durchpausvorlagen von Tattoo-Zeichnungen.

Ebenfalls mit einer Arbeit vertreten ist Karl H. Thiel, einer der ältesten Mieter in den Zollamt Studios. Er machte sein Diplom an der HfG bereits 1978 und arbeitet seitdem als freischaffender Künstler. Eines Tages fuhr er mit der Bahn von Frankfurt nach Berlin, hatte ein Heft mit 128 leeren Blättern dabei und kam auf eine Idee: Im Vier-Minuten-Takt zeichnete er die Eindrücke der vorbeiziehenden Landschaft in das Buch. So füllte er die Hälfte des Heftes. Auf der Rückfahrt drehte er das Buch herum und arbeitete von der anderen Seite bis zur Mitte. Das macht er seitdem zwei- bis viermal im Jahr, immer wenn er nach Marseille, Berlin, Leipzig oder Paris reist. Jedes Blatt wird mit der Uhrzeit versehen, wenn bekannt, notiert er auch den Ort. Die Mitreisenden schauen manchmal etwas irritiert, „aber wenn sie merken: der tut uns nichts, dann lassen sie mich in Ruhe“, erzählt Thiel. Die Bleistiftzeichnungen scheinen manchmal abstrakt, manchmal erkennt man Dächer, Felder oder Bahnhöfe. „Ich zeichne eine Linie und die anderen kommen einfach dazu. Das ist wie Free Jazz“, sagt er. In der „Inside Zollamt“-Ausstellung zeigt er Bilder seiner Fahrt nach Leipzig – erstmals nicht im Buch, sondern auf einzelnen Blättern, an Drahtleisten aufhängt, die an Bahngleise erinnern.

Jean-Claude Mawilla, © Jessi Schäfer

Wer nach der Ausstellung und dem Besuch der offenen Ateliers noch Zeit hat, sollte im Innenhof die Stufen zum Heizungskeller hinab steigen. Hinter mächtigen Rohren, die bullige Wärme ausstrahlen, verbirgt sich nämlich die Fahrradwerkstatt von Jean-Claude Mawila. Eine eigene Welt. Etwas chaotisch und garantiert spannend. Zwischen Fahrradrahmen, Fahrradschläuchen und unendlich viel Werkzeug, fällt der Blick auf Bildschirme, auf denen Videospiele aus den 80er-Jahren flimmern. Eine Trompete steckt irgendwo in dem Sammelsurium, ein Keyboard steht auf dem Perserteppich, in Regalen türmen sich Rollschuhe. „Bis zu den Open House-Tagen räume ich noch auf“, sagt Jean-Claude und lacht. Er ist eigentlich Schauspieler, studierte an der Universität der Künste in Berlin und stand danach auf verschiedenen Bühnen. Lange hatte er ein festes Engagement am Schauspiel Bonn. Er spielte auch in einigen Filmen mit und macht interdisziplinäre Performances. Die Fahrradwerkstatt ist sein zweites Standbein. Interessen hat er viele: Musik, Schauspiel, Kunst. Auch er spricht, wie alle Mieter in den Zollamt Studios, von den Synergien, die hier entstehen. Und wie zum Beweis schraubt er einen Fahrradrahmen in einen Ständer, steckt eine Lenker-Gabel daran fest und sagt: „Schau mal: Picassos Stierschädel!“